Hendrik Liersch

Einst Bausoldat und Möbeltischler in der DDR – heute Verleger,  Buchdrucker und Autor. Der Berliner Hendrik Liersch (55) hat sich nach der Wende bewusst für einen beruflichen Weg entschieden, den er in der DDR nie hätte gehen dürfen. Kompromisslos verlegt und druckt Hendrik heute nur Texte und Grafiken, die er selber mag. Den Staat um Erlaubnis fragen muss er nicht mehr. 

Die Druckerei von Hendrik Liersch liegt in einem Hinterhof in Berlin-Kreuzberg. Kein Schild weist darauf hin, nur Eingeweihte wissen, wo sie klingeln müssen. „Sonst komm ick hier nich zum Arbeiten“, kommentiert Hendrik trocken und gießt sich eine Tasse schwarzen Kaffee ein. Gedruckt wird, was ihm gefällt und in einer Form, die aus jedem Buch ein kleines Kunstwerk macht. Mit alten Druckmaschinen, per Handsatz oder Maschinensatz und auf unterschiedlichsten Papieren entstehen individuelle Künstlerbücher in vielen Formaten. Sammler und ca. 200 Universitätsbibliotheken aus aller Welt sichern sich regelmäßig die schönsten Exemplare.

Hendrik sitzt zusammen mit seinen beiden Druckereipartnern Harald und Dieter im Schatten einer alten Eberesche und genießt ganz offenbar den Augenblick. Er trägt ein schwarzes T-Shirt und Jeans, und hinter den ovalen Gläsern seiner  Metallbrille wandern seine Blicke hin und her, während er erzählt.

Gezeugt in Ahrenshoop

„Ich bin am 11. April 1962 in der Berliner Charité in der Tucholskystraße geboren und im Sommer 1961 in Ahrenshoop gezeugt“, sagt Hendrik. „Meine Mutter hat mir mal das Haus gezeigt, aber ich durfte nicht klingeln und mir auch das Zimmer angucken, obwohl ich sehr neugierig darauf war.“ So wie Hendrik davon erzählt, merkt man, dass es ihm als Kind schwergefallen sein muss, diese von außen gesetzte Grenze zu akzeptieren. Akzeptieren, was ihm nicht richtig erscheint – das geht nicht so ohne Weiteres. Das gilt auch für die Mauer, die seine Heimatstadt in Ost- und Westberlin teilte und die Bewohner willkürlich über Nacht zu Ossis und Wessis machte. Hendrik fühlte sich von Anfang an als Gesamtberliner: „Nur meine Heimatstadt hinkte hinterher und war noch geteilt.“ Durch seinen Vater, den Literaturkritiker und Schriftsteller Werner Liersch hat er auch Zugang zu West-Publikationen. „Ich habe schon immer Bücher und Magazine wie Spiegel und Stern gelesen und als kleines Kind bei uns zuhause die Schöpfer von Literatur aus Ost und West kennengelernt,“ sagt Hendrik. Was er auch lernt: Nicht jeder, der in der DDR etwas veröffentlichen möchte, darf dies auch tun.

Notfallpapa statt Alltagsvater

Als Hendrik vier Jahre alt ist, zieht er aus Neugier einen Bildband aus dem unteren Regal im Arbeitszimmer seines Vaters. Es ist ein Buch über Auschwitz und enthält verstörende Fotos von ausgemergelten Menschen, Haaren, Brillen, Toten. Diese frühe Begegnung mit der grausamen Geschichte des zweiten Weltkriegs hinterlässt einen tiefen Eindruck bei ihm und trägt dazu bei, dass Hendrik später alles Totalitäre ablehnt. Der schockierende Anblick führt damals dazu, dass er eine ganze Woche lang kein Wort mehr spricht. Seine Eltern sind besorgt, denn das Sprechen hatte er sowieso sehr spät begonnen. Hendrik musste erst Vertrauen fassen zur Welt, ihr eine Weile zuhören. Ein „erstes Wort“ sagt er nicht. Er beschloss einfach irgendwann, gleich in ganzen Sätzen zu kommunizieren. Das Verhältnis zu seinem Vater ist schwierig. Als bekannter Schriftsteller, der sogar in den Westen reisen darf, hat der wenig Zeit für seine Kinder Hendrik und Cornelia und Christine – die beiden älteren Geschwister von Hendrik. Als sich seine Eltern dann letztendlich scheiden lassen, leidet er – damals 9 Jahre alt – sehr darunter. „Ich hatte nie einen Alltagsvater, sondern immer nur einen „Notfallpapa“, sagt Hendrik. „Ich lernte früh, mich hauptsächlich auf mich selbst zu verlassen.“

Es ist wichtig zu wissen, was man nicht will

Wenn Hendrik heute erzählt, ist es schwer ihm zu folgen. Er gibt keine Antworten, sondern erzählt Geschichten. Verknüpft eine Episode seines Lebens mit einer anderen und vertraut darauf, dass der Zuhörer den Kreis schließen kann. Nicht immer möchte er alles sagen. Wie seine jetzige, zweite Frau Karen mit Nachnamen heißt zum Beispiel oder wie das Hotel heißt, das sie leitet. Dabei ist das natürlich schnell recherchiert. Offenbar wählt er mit Bedacht, was er preisgeben möchte und was nicht. Ähnlich geht er beim Drucken vor. Er weiß nicht, wieviele Bücher er schon gedruckt hat, aber das ist ihm egal. „Viel wichtiger ist doch, was ich nicht drucke“, sagt Hendrik. „Als Mensch ist es wichtig zu wissen, was du nicht willst“. Und das weiß Hendrik ganz genau und richtet sein Leben nach diesen Grundprinzipien aus. „Wenn du im Alter krank wirst, kannst du alles laufen lassen oder du kannst die Dinge steuern. Du entscheidest, ob du der verwirrte alte Mann sein willst oder ob du dir einen Waffenschein besorgst wie Gunter Sachs.“ Dabei hat Hendrik sein Leben lang Waffen abgelehnt. Bis heute geht er ausschließlich zu westdeutschen oder weiblichen Ärzten, weil er sicher sein will, dass sie keinen Militärdienst an der Berliner Mauer geleistet haben. „Ich möchte keinen Arzt haben, der an der Mauer geschossen hat. Wer studieren wollte, wurde ja vom Staat oft genötigt, drei Jahre an der Grenze zu dienen.“

Hendriks schwerster Kompromiss

Es scheint für Hendrik unerträglich, wenn andere ihn zwingen wollen, gegen seinen eigenen Willen zu handeln. Und doch musste er einmal den wohl schwersten Kompromiss seines Lebens eingehen. Als er als überzeugter Pazifist zur Nationalen Volksarmee (NVA) einberufen werden soll, steht er vor der Entscheidung, gegen seine Prinzipien zu handeln oder als Totalverweigerer für Jahre ins Militärgefängnis zu gehen. Da er weiß, dass er das Gefängnis aus psychischen Gründen nicht überleben würde, geht er den Weg des Bausoldaten – ein Wehrersatzdienst ohne Waffe, aber dennoch in Uniform bei der NVA. Bausoldaten standen auf der untersten Stufe der militärischen Hierarchie und waren Diskriminierungen und Repressalien ausgesetzt. Als Zwangsarbeiter füllten sie Lücken, wo Arbeitskräfte fehlten und mussten unter oft verheerenden  Arbeitsbedingungen schuften. Im Extremfall in den Chlordämpfen der Stahl- und Chemieindustrie z.B. in Merseburg. Nach der Bausoldatenzeit war ihnen dann zudem der Zugang zu vielen Berufen und zum Studium verwehrt. Hendrik bereitet sich auf die bevorstehenden Monate Zwangsaufenthalt und Fremdbestimmung mental vor, in dem er sich Unterstützung von seinem Freund Georg holt, der das Konzentrationslager Buchenwald überlebt hat. „Er sagte zu mir, du musst einfach gucken, dass du dich als Pflanze betrachtest und versuchst, da Wurzeln zu schlagen. Er meinte damit, ich solle mich darauf konzentrieren, was ich trotz der Situation noch machen kann – nicht darauf, was nicht mehr möglich ist“.

Bausoldat auf Rügen

1987 wird Hendrik als Bausoldat für Rügen einberufen kurz nachdem er geheiratet hat. „Sie wollten dich immer aus irgendwas rausreißen“, sagt Hendrik. „Kaum hattest du deine Ausbildung abgeschlossen oder als Künstler ein Engagement an einem Theater oder in einem Orchester erhalten, musstest du plötzlich innerhalb von einer Woche dein Leben komplett umkrempeln und zur Armee.“ Die Bausoldaten sind im durch die Nazis errichteten kilometerlangen KdF-Bau („Kraft durch Freude“) in Prora untergebracht. Er liegt parallel zum Strand und ist der größte Bausoldaten-Standort der DDR. 500 Bausoldaten sind dort als Teil von drei regulären Kompanien von insgesamt 15.000 Mann in Prora untergebracht.

Für 18 Monate sind die Soldaten jeweils zu sechst in 20-Quadratmeter-Zimmern einquartiert – ohne jegliche Privatsphäre. Der zwölfstündige Arbeitstag beginnt jeden Morgen um viertel vor vier und verlangt ihnen alles ab, wenn sie mit Spitzhacken und Schaufeln statt mit unterstützender Technik den Fährhafen Mukran bauen. Hendrik besinnt sich auf den Rat seines Freundes und konzentriert sich auf das, was gut ist. „Ich habe keinen einzigen Sonnenaufgang versäumt und dem Meeresrauschen zugehört“, sagt Hendrik und lächelt.  „Abends habe ich dann gelesen – zum Beispiel ,der Mann ohne Eigenschaften’ von Robert Musil, den ich innerhalb von drei Wochen durch hatte. Wo kannst du das sonst im normalen Leben?“

Nackt und vorgeführt

Dann geschieht etwas, worauf sich Hendrik nicht vorbereiten konnte: Seine Frau will sich von ihm trennen. Eingesperrt in der Kaserne und ohne Telefon, kann Hendrik weder zu ihr fahren noch mit ihr sprechen. Es stürzt ihn in eine tiefe Krise, dass man ihn nicht um seine Ehe kämpfen lässt. Er fühlt sich ausgeliefert und merkt, dass er dringend Hilfe braucht, weil er Selbstmordgedanken hat. Mitten in der Nacht versucht er, einen Militärarzt zu finden. Letztendlich wird er einem diensthabenden Orthopäden vorgeführt , der ihn nackt auf und ablaufen lässt. „Der hat dann erkannt, dass ich für zwei Wochen auf die geschlossene Abteilung gehöre“, sagt Hendrik, und es klingt sarkastisch. „Da durfte ich dann rumlaufen mit meinen schwarzen Halbschuhen ohne Strümpfe und in einem OP-Hemd bis zum Bauch, keine Unterhose kein nüscht. Das war Schikane oder wir waren einfach unwichtig für die“, sagt Hendrik.

Die Einweisung in die geschlossene Abteilung und ein von ihm veranlasstes Gespräch mit dem Standort-Kommandeur von Prora führen dazu, dass man Hendrik für die letzten Monate in Ruhe lässt. „Ich hatte plötzlich Narrenfreiheit,“ sagt Hendrik. „Die dachten, der hat sowieso ´ne Macke“.

Über die Zeit auf Prora hat Hendrik ein kleines Buch geschrieben und gedruckt (Ein freiwilliger Besuch – als Bausoldat in Prora, Corvinus Presse, 1997). Auch war er Mitbegründer des Vereins „Förderkreis Bausoldaten Prora e.V.“ und hat als Zeitzeuge in Schulen über seine Bausoldatenzeit gesprochen. Er wollte einerseits selbst das Thema verarbeiten und andererseits auch dafür sorgen, dass dieser Teil der DDR-Geschichte nicht komplett in Vergessenheit gerät. Auch ist er einer der wenigen, der einige Jahre später noch einmal zu den Ruinen in Prora zurückgekehrt ist, um für sich selbst einen Schlussstrich zu ziehen. Viele der einstigen Kameraden konnten das bis heute nicht.

Druckfreiheit

Mit der Wende steht Hendrik Liersch die Berufswelt offen. Er könnte sein Abitur nachmachen, studieren, Architekt werden oder auch in seinem gelernten Beruf des Möbeltischlers einen Meister machen. Doch diese Wege interessieren ihn nicht. Es muss ein Beruf sein, den er in der DDR niemals hätte wählen können: Verleger und Drucker. So gründet Hendrik 1990 den Einmannverlag Corvinus Presse (Corvinus = der kleine Rabe). Der Name ist eine Hommage an den Verleger und Schriftsteller Victor Otto Stomps, der 1926 den Verlag „Die Rabenpresse“ gegründet hatte. Im dritten Reich bot dieser Freiraum für Künstler, deren Werke von den Nationalsozialisten abgelehnt und teilweise sogar verbrannt worden waren. Hendrik Liersch sieht sich in dessen Tradition – sowohl in Bezug auf die hohe handwerkliche Qualität als auch der politischen Komponente. So gehören zu Hendriks Künstlerbüchern u.a. Werke von Henryk Bereska (Mitunterzeichner der Petition gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann) und Peter Will, der für regimekritische Gedichte drei Jahren lang in der DDR inhaftiert war.

Oft sind es auch Zufälle kombiniert mit Sympathie, die ein Kunstprojekt hervorbringen. 2005 führten drei Stunden Unterhaltung in der Warteschlange zur Goya-Ausstellung vor der Alten Nationalgalerie in Berlin zu zwölf Büchern mit dem Maler und Bildhauer Zoppe Voskuhl, mit dem er weiterhin regelmäßig eng zusammenarbeitet.

Respekt und Wertschätzung

Die Buchdruckkunst ist für Hendrik eine Herzensangelegenheit. Niemals würde er sich anbiedern, um einen wohlwollenden Artikel in einer Zeitung oder eine Erwähnung durch eine wichtige Persönlichkeit zu erreichen. „Es bringt mir nichts, wenn ein hochbezahlter Professor sagt „das ist aber ein schönes Buch“. Für ihn zählen die Sammler, die seine Drucke schätzen, sie kaufen und ein echtes Interesse an seiner Kunst haben. Hendrik mag sowieso vor allem Menschen, die wertschätzend und respektvoll mit ihm umgehen – egal wie nützlich er für sie ist. „Wenn ich auf Partys meine Ruhe haben will, dann sage ich nicht, dass ich Kunst drucke und Bücher mache, sondern, dass ich arbeitslos bin. Dann unterhalten sich viele nicht mehr mit dir, weil du plötzlich uninteressant bist.“

Gespräche führt Hendrik am liebsten mit viel Tiefgang: „Lieber ein intensives Gespräch mit einer Person auf dem Balkon, als Small Talk mit vielen im Partytrubel. Das ist nur Zeitvertrödelung, denn die wollen bloß herausfinden, ob du für sie nützlich bist.“

You can always print what you want

Genauso ist das mit der Kunst. Wenn ein Buch gut werden soll, braucht es intensive Auseinandersetzung und viel Zeit. Das ist einer der Aspekte, die den Verlag Corvinus Presse so besonders machen. Hendrik kümmert sich selbst um die Umsetzung und sorgt mit seinem geschulten Auge dafür, dass der künstlerische Inhalt mit den richtigen Farben, dem richtigen Papier und dem richtigen Format verbunden wird. „Ich habe dabei eine Ruhe und eine Kraft, die sich andere nicht gönnen. Ich will ja vermeiden, dass man kitschige Bücher in lila Einbänden macht.“ Die Gefahr besteht bei Hendrik Lierschs Verlag sicher nicht. Viele hundert Bücher hat er bereits gedruckt, und sie alle sind kleine Kunstwerke, die nur entstanden sind, weil Hendrik es so wollte. Ohne Schere im Kopf, ohne Einmischung von außen.

„Mein Motto ist you can always print what you want!“ sagt Hendrik lachend. Und er klingt frei als er den Rolling Stones Hit abwandelt.

Impressionen aus der Druckerei findet man auf Facebook.

Hendrik Liersch trifft man:

auf Facebook: https://www.facebook.com/CorvinusPresse/ 
im Internet: www.corvinus-presse.de
auf Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Hendrik_Liersch
auf der Messe: 13. BuchDruckKunst https://buchdruckkunst.com/die-messe/ – Erlesenes auf Papier im Museum der Arbeit, Hamburg (23. – 25. März 2018)

Kontakt:
corvinus@snafu.de

Auszeichnung:
2009 V. O. Stomps-Preis der Stadt Mainz für buchkünstlerische Leistungen