Petrus Akkordeon
Der Berliner Künstler Petrus Akkordeon verbrannte früher Bücher und warf Farbeimer aus Unifenstern. Heute pflanzt er Blumen auf unwirtlichen Verkehrsinseln und liest Gedichte unter Autobahnbrücken vor. In einer einjährigen Kunstaktion versucht er zum Hirsch zu werden und irritiert damit Schamanen, Jäger und Juristen.
Petrus Akkordeon steht mit einer Axt im Souterrain einer alten Villa in Berlin-Lichterfelde. Der Kontrast könnte nicht stärker sein: Oben das hochherrschaftliche Haus mit Fresken am Eingang, hohen Fenstern und einer weiß leuchtenden Fassade und unten die niedrigen Räume von Petrus. Seit seiner Geburt hat er hier gelebt – als jüngstes Kind seiner Eltern mit Bruder Roland und seinen Schwestern Pia und Daniela. Seine Freundin Tanja gesellte sich nach der Schulzeit ebenfalls dazu. Diese Zeit endet heute. Denn heute ist der Tag, an dem Petrus sein Atelier zerhackt. Die Räume, in denen der 46-Jährige sein ganzes Leben verbracht, gezeichnet, illustriert und gedichtet hat, wird er heute verlassen. Er hat letzte Weihnachten die Kündigung bekommen – die Frist ist nun abgelaufen. Die Villa wird saniert und umgebaut – der über 100jährige Garten muss einem Neubau weichen.
„Ich habe 30 Jahre lang als Butler und Gärtner für Margret, die alte Dame oben, gearbeitet“, sagt Akkordeon und zeigt mit dem Finger an die Decke. Ihr fühlte sich Petrus sein Leben lang menschlich sehr verbunden, und sie behandelte ihn wie ein Familienmitglied. Doch letzten September fand Petrus die 86-Jährige sterbend in ihrem Zimmer auf dem Boden. „Nun braucht sie mich nicht mehr“, sagt Petrus leise. „Ich hatte Margret versprochen, dass ich mich bis zu ihrem Tod um sie kümmere.“ Mit Margret hat er nicht nur einen sehr nahestehenden Menschen verloren, sondern gleichzeitig seine Wohnung und seine Arbeit.
“Meine Kindheit war so Scheiße, dass mir die jetzige Situation leicht fällt”.
Sein Atelier, in dem er in gefährlich schwankenden Stapeln seine Kunst aufbewahrt hatte, ist nur noch ein Trümmerhaufen. Über tausend Bilder hat er nicht unterstellen können, als er aufgrund der Räumungsfrist ausziehen musste. Sie wurden nun zerstört. Für jemanden, der kein einziges seiner Kunstwerke je weggeworfen hat, ist dies eine harte Probe. Da Petrus gerade eine dreijährige Ausbildung zum Altenpfleger begonnen hat, blieb ihm einfach keine Zeit, alles auszuräumen. „Ich stehe morgens um halb fünf auf, fahre zur Arbeit, arbeite acht Stunden oder mache Doppelschichten und habe auch noch ein Pferd, um das ich mich kümmern muss.“ Doch Petrus findet trotz allem, dass er es besser als andere hat: „Meine Kindheit war so Scheiße, dass mir die jetzige Situation leicht fällt, weil ich ja trainiert bin.“
Wenn Akkordeon von seinem Leben erzählt, hat man Mühe ihm zu folgen. Zu viel scheint passiert, um es lange zu erklären. Jeder seiner knapp formulierten Sätze erzeugt Erstaunen und weckt Zweifel. Sein Vater ein Fremdenlegionär, die eine Schwester Sängerin, die andere fast taub, sein Bruder ein Tattookünstler, seine Oma psychotisch, die Mutter dement, er selbst Veganer, Butler, Künstler, Guerilla-Gärtner und nun angehender examinierter Altenpfleger. Für Akkordeon ist das Anderssein das Normale.
“Entweder werde ich Künstler oder ich bringe mich um”.
Akkordeon lebt schon als Kind in seiner eigenen Welt der Kunst. Das reale Familienleben hingegen wird vom Vater beherrscht. Der alkoholkranke französische Ex-Fremdenlegionär kehrt traumatisiert aus dem Algerienkrieg zurück und kommt als Alliierter nach Berlin. Als ein Freund in seinem Beisein von einer gerissenen Panzerkette enthauptet wird, verlässt er die Armee. Er ist mehrfach traumatisiert, psychisch krank und nun sogar obdachlos. Auf einer Bank vor einer Kirche in Berlin-Steglitz trifft er Petrus’ Mutter, die ihn später heiratet. Zukünftig wird die ganze Familie unter ihm leiden, da er täglich seine Kriegstraumata neu durchlebt.
Abgehackte Köpfe und verbrannte Menschen
„Er hat uns von abgehackten Köpfen und Menschen erzählt, die die Soldaten mit Flammenwerfern verbrannt haben, weil sie ihnen kein Wasser geben wollten. Ich habe mir das als Kind jeden Abend anhören müssen“, sagt Petrus. „Immer wieder hat er auch gedroht, uns umzubringen.“
Doch die Mutter wagt nicht, den Mann zu verlassen, da sie fürchtet, er würde seine Morddrohungen dann wahr machen. Akkordeon lernt, Wut und Trauer nicht zu zeigen, um den Vater nicht zu provozieren. Er malt und zeichnet stattdessen exzessiv und schläft teilweise nur drei Stunden am Tag. Solange er malt, ist er Künstler, kann selbst entscheiden, was er tut. Seine Werke signiert er je nach Stimmung mit wechselnden Namen und absurden Jahreszahlen – hier hat er die Kontrolle, nicht der Vater.
In der Pubertät schlägt Angst in Hass um, Akkordeon will sich physisch wehren. „Ich habe mir eine Axt gekauft und sie ständig am Gürtel getragen.“ Er trainiert sogar für den möglichen Kampf und entschließt sich dann doch aus Vernunft dagegen. „Ich folge meinen Gedanken immer bis ins Extremste, weil ich das spannend finde. Aber dann setze ich sie nicht in die Tat um.“ Als sein Vater von ihm verlangt, eine Lehre zu beginnen, revoltiert er und droht in einer Sprache, die der Vater versteht: „Entweder werde ich Künstler oder ich bringe mich um.“ Diesen Kampf gewinnt Akkordeon, der zu diesem Zeitpunkt noch Jean-Pierre Batailde heißt.
Er beschließt, Petrus Akkordeon zu sein
Mit 18 trennt sich Akkordeon von dem verhassten Namen des Vaters und beschließt, Petrus Akkordeon zu sein. „Ich habe mir einfach eine neue Biografie erbaut, die mir gefallen hat.“ Die Entscheidung fällt, während er im Schulunterricht den Film „Panzerkreuzer Potemkin“ sieht und dabei einen Akkordeon spielenden Matrosen zeichnet. Wie so oft bei ihm, klingt auch diese Geschichte frei erfunden, aber das Bild mit dem Matrosen gibt es tatsächlich. Er hat es in Großbuchstaben mit Akkordeon signiert. „Ein Sammlerstück für meinen späteren Weltruhm“, wie er augenzwinkernd sagt.
Akkordeon fällt bereits in seiner Schulzeit mit ungewöhnlichen Aktionen auf. Ihn fasziniert, wie man Sichtweisen und dadurch die Realität verändert. Als 1990 sein Vater stirbt, will Akkordeon den Tod besser verstehen. Er bringt an einem Freitag einen großen Rinderknochen in die Schule und legt ihn in eine Glasvitrine der Kunst-AG in die Sonne. Die Vitrine schließt er ab. Am Montag zieht Verwesungsgeruch durch die Schule und die Lehrer sind empört. Akkordeon weigert sich eine Woche lang, die Vitrine wieder aufzuschließen. Er will unbedingt etwas sichtbar machen, was man sonst nicht sehen würde und nimmt dafür jeden Ärger in Kauf.
Alltägliches in Kunst verwandeln
Dieser Ansatz zieht sich bis heute durch viele seine Aktionen, die mittlerweile jedoch deutlich weniger provokant sind. Heute will er vor allem Alltägliches in Kunst verwandeln, den Alltag „poetisieren“. Er bietet dazu Spaziergänge in der Natur an, bei denen die Teilnehmer Gedichte verfassen sollen, um sie den Bäumen vorzulesen. Oder er liest wie beim Internationalen Literaturfestival „Radaugedichte“ unter einer Autobahnbrücke vor, die keiner versteht, weil der Verkehrslärm darüber brüllt. Akkordeon erzeugt durch seine absurden Aktionen einen neuen Blick auf Orte, an denen man sonst unachtsam vorbei gehen würde. Den kommerziellen Erfolg sucht er damit nicht, denn für ihn ist die Kunst selbst das Wichtige.
“Wenn ich etwas behaupte, dann ist es eben da”.
Doch Erfolg stellt sich manchmal unerwartet ein. Als er beginnt, zu spontanen Pflanzaktionen auf hässlichen Berliner Verkehrsinseln und anderen öffentlichen Orten aufzurufen, interessieren sich die Medien plötzlich für ihn. Denn „Guerilla-Gardening“ ist gerade en vogue und klingt gefährlich. Akkordeon erhält Anfragen aus der ganzen Welt, wird gefilmt mit Spitzhacke und Spaten am Potsdamer Platz oder am Reichstag und erntet Geraune, wenn er den Journalisten mit hochgezogenen Augenbrauen von den „hohen Strafen für illegales Pflanzen“ erzählt. Akkordeon spielt gern mit den Erwartungen der Journalisten und führt sie damit gleichzeitig in die Irre. Niemand kann bei ihm sicher sein, dass er nicht unvermittelt selbst zum Kunstobjekt wird. Auch sein „Journalistengarten“ ist so entstanden. Als er merkt, dass Reporter immer wieder fragen, ob er ihnen eine verbotene Aktion an einem interessanten Ort zeigen könne, führt er sie an den unspektakulären Teltowkanal im abgeschiedenen Südberlin. Er lässt sie am Kanal selbst zur Schaufel greifen. Indem sie graben, säen, filmen und fotografieren, schaffen sie sich ihre Aktion selbst und merken es gar nicht. Akkordeon ist sich sicher: „Wenn ich etwas behaupte, dann ist es eben da“.
Denk dir einen Würfel – und denke ihn wieder weg
Ursprünglich wollte Akkordeon freie Künste an der Hochschule der Künste (HdK, heute UdK) in Berlin studieren, wurde jedoch abgelehnt. 1992 erhält er einen Studienplatz für Kunstlehrer und trifft in seinem Studiengang auf Professoren, die eher die Techniken der Kunst vermitteln wollen. Sie legen den Kunstbegriff sehr eng aus. Für Akkordeon kann jedoch Kunst durchaus etwas sein, das nur in der Vorstellung existiert. Seiner Dozentin Britta Clausnitzer präsentiert er in einem Seminar ein Kunstwerk in Form eines reinen Textes: „denk dir einen würfel mit der kantenlänge von einem meter, er schwebt in deiner augenhöhe in einem abstand von einem meter und dreht sich sehr langsam im uhrzeigersinn um seine eigene achse. komme in 24 stunden wieder hier her und denke ihn weg.“
Die Malerin Clausnitzer sieht darin Kunst, die jeden Betrachter verführe, die Welt durch eigene gedankliche Assoziationen neu zu schaffen und zu poetisieren. Doch nicht alle sehen dies so. Einige Professoren lehnen es strikt ab, Akkordeons Kunst anzuerkennen. Doch trotz aller Anfeindungen ist Akkordeon absolut überzeugt von seiner Arbeit. „Petrus fand es grundsätzlich unter seiner Würde, seine Kunst zu erklären“, sagt Clausnitzer und lacht. „Er empfand es eher als Affront, dass Kunstprofessoren ihr eigenes Fach nicht verstanden.“
F. W. Bernstein: “Ich bin immer noch ein großer Bewunderer von ihm”.
Akkordeon polarisiert. Mit wildem Bart, langen Haaren, einer weiten weißen Hose mit Farbflecken und einer Axt am Gürtel stößt er in dieser Zeit häufig auf Ablehnung. Zudem wirken viele von Akkordeons Aktionen provokativ. So wirft er beispielsweise Farbeimer aus dem Fenster des ersten Stocks in den Hof der Universität. Oder er zündet vor den Augen der entsetzten Professoren im Lehrerseminar Bücher an, weil er eine Diskussion über das Bücherverbrennen anstoßen will. Der bekannte Titanic-Karikaturist F.W. Bernstein, der Akkordeon an der Uni unterrichtet, beschreibt ihn als einen „unglaublich produktiven und dabei kompromisslosen Künstler“, der jedoch nicht aktiv die Provokation suchte. „Akkordeon machte Kunst einfach so, wie er sie für richtig hielt und nahm dabei keinerlei Rücksicht auf mögliche Konsequenzen. Ich bin immer noch ein großer Bewunderer von ihm.“
1999 gründet Akkordeon gemeinsam mit Freunden an der HdK den „Kunstkampfverlag“, der den „antikommerziellen Weltruhm“ zum Ziel hat. Gemeinsam mit seinem Künstlerfreund Georg Kakelbeck produziert er jede Woche ein Heft mit eigenen Zeichnungen und Lyrik, das sie auf Schwarz-Weiß-Kopierern herstellen und in Minimalauflagen von zehn Stück auf den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt anbieten – mit mäßigem Erfolg, aber dadurch tatsächlich strikt antikommerziell.
Von dem jungen Wilden mit Axt im Gürtel, ist heute nichts mehr zu erkennen. Akkordeons lockige dunkelbraune Haare sind zu einem Pferdeschwanz gebunden, sein Bart ist gepflegt und er trägt eine Jeans und einen dunklen Pullover zu schwarzen Outdoorstiefeln. Seine Augen haben etwas Sanftes und gleichzeitig Schalkhaftes, wenn er von seinen Kunstprojekten erzählt. Das Studium hat er schließlich 2003 nach zehn Jahren beendet, als der Fachbereich Kunstpädagogik aufgelöst wurde.
Der Mann, der ein Hirsch werden wollte
Akkordeon arbeitet künstlerisch hauptsächlich mit der Darstellung von Tieren, sowohl in seinen Zeichnungen als auch in Gedichten. Mit wenigen Pinselstrichen bringt er sie humorvoll und ausdrucksstark aufs Papier oder drückt seine Verbundenheit in Gedichtzeilen aus: „Überall sind diese Leute, gestreifte Wesen. Manchmal wäre ich gern ihr Freund. Möchte mich an ihnen reiben bis sie krallenscharf mich Nähe lehren.“ Vielleicht ist es diese Sehnsucht nach Nähe, die ihn 2009 auf den Gedanken bringt, in einem einjährigen Kunstprojekt das Hirschwerden zu probieren. Den Startpunkt legt er auf seinen Geburtstag, den 27. September – eine Wiedergeburt als Hirsch. „Wie man ein Hirsch wird“ ist für Akkordeon eine der schönsten, aber auch eine der schwierigsten Aktionen, die er je gemacht hat. Sie vereint seinen Wunsch, Realität allein durch Vorstellungskraft zu verändern mit seinem Talent, Menschen dazu zu bringen, seine Vorstellungswelt zu teilen. Akkordeon geht das Projekt ganz pragmatisch an. „Ich habe mir überlegt, was man braucht, um ein Hirsch zu werden und habe dann im Internet nach Angeboten gesucht.“
Wie es ist, vier Beine und ein Geweih zu haben
Nach anfänglicher Skepsis lassen sich tatsächlich einige „Experten“ auf ein Gespräch mit Akkordeon ein. Sie alle setzen sich mit dem Gedanken auseinander, es wäre tatsächlich möglich, sich in einen Hirsch zu verwandeln. Selbst eine Tierärztin, die als Naturwissenschaftlerin sicher nicht an Illusionen glaubt, gibt ihm praktischen Rat: Er solle sich einen Lebensraum suchen, der für Hirsche zum Schlafen und Essen geeignet wäre. Und mit einem Juristen, der sich sonst mit trockenen Paragraphen beschäftigt, führt Akkordeon eine ernste Diskussion darüber, ob man als Mensch seine Menschenrechte abgeben und gegen den Tierstatus tauschen könne. Als eine Jägerin überrumpelt zugibt, dass sie Akkordeon für einen Hirsch halten könnte, wenn sie einen Hirsch erwarten würde, hat Akkordeon sein Ziel erreicht: Jemand hat ihn tatsächlich als Hirsch gesehen, wenn auch nur für kurze Zeit.
Auch er selbst denkt sich hinein in das Hirschsein, stellt sich vor, wie es im Alltag wäre, vier Beine und ein Geweih zu haben. Das geht so weit, dass er nicht mehr Auto fährt, weil ihn sein Geweih dabei stört. Außerdem ernährt er sich vegan wie Hirsche auch. Nach einem Jahr und weiteren Gesprächen mit dem Berliner Wildtierexperten Derk Ehlert, einem Schamanen, einem Philosophen und einer Reiki-Meisterin, schließt er sein Projekt schließlich offiziell ab.
“Ich fühle mich immer noch wie ein Hirsch”.
Doch scheint die Aktion für Akkordeon noch nicht wirklich beendet zu sein. „Ich fühle mich immer noch wie ein Hirsch“, sagt er und betrachtet nachdenklich seine Füße auf dem Boden. „Und mir wächst langsam ein Geweih“. Er hebt den Kopf und sein Blick lässt keinen Zweifel zu. In der Vorstellung ist es plötzlich da: braun und mit spitzen Verzweigungen, schwebend über seinem Gesicht. Akkordeon lächelt zufrieden, ganz mit sich im Reinen.
Wenn es für ihn soweit ist, wird er einfach beschließen, etwas ganz anderes zu sein – ein Haselnussstrauch zum Beispiel.
Bücher von Petrus Akkordeon
1999 erschien das erste Buch „Der Froschkönig“ mit Gedichten und Zeichnungen von Petrus Akkordeon bei der edition wasser im turm.berlin. Seitdem sind es bereits über fünfzig Bücher geworden, die unter anderem im Verlag Corvinus-Presse von Hendrik Liersch erschienen sind. Darunter „Zack die Ente“ mit Gedichten von F.W. Bernstein und Illustrationen von Petrus Akkordeon (2017).
Seine Bücher bekommt man u.a. bei: Corvinus-Presse , edition wasser im.turm.de, andante presse berlin, mückenschweinverlag Stralsund, Verlagshaus Berlin.
Kontakt: pakkordeon@web.de
und auf Facebook: https://www.facebook.com/petrus.akkordeon
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