Ingeborg Krölke

Als Kind prügelte sie sich mit Jungs und sprang über Eisschollen – heute vertraut Ingeborg Krölke (76) auf Buddha und meditiert mehrmals am Tag. Ihre wahre Liebe fand sie vor fast 30 Jahren in ihrem Beruf: 1989 eröffnete sie ihr eigenes Kosmetikgeschäft mit Fußpflege in Berlin-Moabit und kann sich seitdem nichts Schöneres mehr vorstellen.

Ingeborg Krölke reckt sich mit ihren 1,56 m Körpergröße so hoch sie kann. Der große Kerl, der sie um Kopfeslänge überragt, hat gerade ihre Geldkassette vom Tresen genommen und denkt, sie hätte das nicht gesehen. Wütend greift sie ihm vorn in sein T-Shirt und dreht den Stoff inklusive seiner Brusthaare in ihrer Faust. „Stellste die die Dose wieder hin oder soll ich zuschlagen?“ Ihre Augen sind dabei fest auf ihn gerichtet. Dann wird ihr plötzlich bewusst, wie absurd das wirken muss – diese kleine wütende Frau, die dem Mann noch nicht einmal zur Schulter reicht, aber keine Angst vor ihm hat. Doch sie dreht das T-Shirt nur noch fester in ihrer Hand. Natürlich könnte der Dieb sie einfach beiseite schieben, aber das ist ihr jetzt egal. In ihrem Geschäft wird nicht geklaut. Basta! Und tatsächlich: Ihre Entschlossenheit zeigt Wirkung. Kleinlaut stellt der Mann die Geldkassette wieder auf ihren Platz und verlässt das Geschäft. Bei Ungerechtigkeiten lässt Ingeborg Krölke so schnell nicht locker. Damit bekam sie schon in der Schule Ärger, wenn sie sich für Mitschüler einsetzte.

Wilde Jugend

Als Ingeborg 1941 in Werder geboren wird, ist ihr Vater gerade seit drei Jahren an Land. Der Seemann hatte sich in Ingeborgs Mutter Margot verliebt und dann für sie der See den Rücken gekehrt. Sein Fernweh muss er jedoch seiner Tochter Ingeborg mitgegeben haben, denn die macht sich mit fünf Jahren mit ihrem kleinen Handkarren auf, um die Welt zu erkunden. Das kleine Mädchen läuft mehrere Kilometer weit, bis sie eine Nachbarin vor der Glindower Dorfkirche heulend findet und auf dem Gepäckträger wieder nachhause bringt. „Meine Mutter war heilfroh, denn die hatte schon verzweifelt die Havel abgesucht.“

Als sie älter wird, entwickelt sich das Einzelkind immer mehr zu einem Wildfang. Angst kennt sie keine. Sie ist wild und impulsiv. „Wenn es hieß ‚trauste dich?‘, war ich immer dabei,“ erinnert sie sich lachend. Sie klettert auf Bäume, schleicht sich in Nachbargärten, um Birnen zu klauen und prügelt sich mit Jungen, um sich als einziges Mädchen durchzusetzen. Fasziniert vom Roman „Onkel Toms Hütte“ spielt sie mit den Nachbarjungen die Fluchtszene der jungen Sklavin im Roman nach. „Bei uns auf der Havel hatten die Fischer das Eis aufgehackt, um zu angeln. Kaum waren die weggegangen, sind wir auf die Eisscholle gesprungen und dann prompt eingebrochen.“ Die Fischer müssen Ingeborg und ihre Freunde aus dem eiskalten Wasser ziehen. „Ich bekam dann zweimal Senge. Einmal von dem Fischer, der mich rausgezottelt hat und als ich nachhause kam nochmal.“

Da sich ihr Vater kurz nach ihrer Geburt freiwillig zur Armee gemeldet hat, wächst Ingeborg mit ihrer Mutter und der Großmutter auf. „Meine Mutter hat oft zu mir gesagt, ,du bist wie meine Mutter!’, und das klang nicht freundlich“, sagt Ingeborg Krölke und lacht. Ihre braunen Augen funkeln dabei verschmitzt über den Goldrand ihrer Brille hinweg. Sie trägt ihr blondiertes Haar kurz, aber gerade so lang, dass es ihre beiden Hörgeräte überdeckt. Ihr weißer Kittel und die weißen Handschuhe hätten bei jemand anderem vielleicht streng gewirkt. Doch Ingeborg Krölke strahlt so viel Fröhlichkeit aus, dass man meint, man blicke direkt in die Augen eines jungen Mädchens.

„Meine Mutter war ein schickes Ding, groß und schlank und immer knallrote Fingernägel. Sie konnte nicht kochen, nicht backen, aber fuhr Auto und konnte Klavier spielen.“ In das von Ingeborgs Großeltern gepachtete Kino „Lindenpalast“ in Werder kommen damals oft bekannte Schauspieler zu den Vorführungen. Elegant gekleidet blüht die Mutter bei diesen Treffen förmlich auf. „Sie war wie ein Pfau im Hühnerhof,“ sagt Ingeborg Krölke kichernd und zupft die Finger eines Gummihandschuhs zurecht.

Trennung vom Vater

Doch nach dem Krieg ist alles anders. Die Vorführgeräte sind demontiert und das Kino geschlossen. Werder gehört nun zur russischen Besatzungszone und das Leben ist alles andere als fröhlich. Als der Vater 1945 aus dem Krieg zurückkehrt, beginnt der jedoch für die Menschen im Ort Musik zu machen. Der große, dunkelhaarige Mann lässt viele den düsteren Alltag vergessen, wenn er voller Lebensfreude Schifferklavier spielt, Step tanzt oder Shantys auf Englisch singt. Dies ist den Russen allerdings ein Dorn im Auge. Sie zwangsverpflichten ihn für die Bergwerksarbeit in Aue, von wo er bald danach in den Westen flüchtet. „Meine Mutter fuhr dann manchmal rüber zu ihm mit Wodka und kam mit grüne Heringe zurück. Das war damals ein begehrter Artikel,“ sagt Ingeborg Krölke mit dem typischen Berliner Dialekt, der keinen Dativ kennt.

1947 nimmt ihre Mutter sie einmal mit zu ihrem Vater, der mittlerweile in Hamburg wohnt. Als Bürger der sowjetischen Besatzungszone können sie nur illegal mit Schleusern über die schwach bewachte grüne Grenze in die Westzone außerhalb Berlins. Auf dem Hinweg geht alles gut, aber auf dem Rückweg werden sie von den Russen gestellt und verhaftet. Nach drei Tagen in einem Lager und einem Stempel im Reisepass, wagen sie es nicht, die Grenze noch einmal zu passieren – die Familie ist somit getrennt.

Ab 1948 wird auch in Westberlin die DMark der Westzone eingeführt. So gibt es plötzlich zwei Währungen in der Stadt. Schnell ist die Westmark doppelt soviel wert wie die unbeliebte Ostmark und wird zum wichtigen – aber illegalen – Tauschmittel.  Ingeborgs Vater schickt der Familie regelmäßig Geld auf ein Konto in Berlin, von dem die Mutter abhebt, um zu tauschen bzw. damit einzukaufen. Das ist verboten, und als sie eine Vorladung wegen Devisenvergehens erhält, ist klar, dass sie verhaftet werden soll. „Das war ein richtig schweres Vergehen,“ erläutert Ingeborg. „Sie wäre ins Zuchthaus und ich ins Heim gekommen“. Ihre Mutter will das auf jeden Fall verhindern.

Flucht in den Westen

So kommt es, dass Ingeborg 1955 mit ihrer Mutter in eine S-Bahn nach Berlin steigt im festen Glauben, es wäre ein normaler Besuch bei ihrer Tante in Neukölln. Doch als sie sicher im Westteil angekommen sind, eröffnet ihr ihre Mutter, dass sie nicht wieder zurückfahren werden. „Ich habe ein Riesentheater gemacht, ich hatte ja mein ganzes Leben in Werder verbracht, hatte meine Freundinnen dort und sollte nun alles nie wiedersehen.“ Ingeborg wehrt sich mit Händen und Füßen und wird schließlich von der Mutter und der Tante eingesperrt. „Ich musste schwören, nicht abzuhauen, erst dann haben sie mich wieder rausgelassen.“

Es ist tatsächlich anfangs nicht einfach für die Vierzehnjährige. Der Vater, den sie acht Jahre lang nicht gesehen hat, soll nun plötzlich zusammen mit ihnen in einem kleinen Zimmer in Rudow leben. Doch die anfängliche Befangenheit verfliegt schnell. „Mein Vater und ick verstanden uns auf Anhieb.“ Doch Ingeborg kann sich an die Großstadt nur schlecht gewöhnen. Ihr fehlen die Natur, der Sport, ihre Freunde. „Ich habe mich in Neukölln anfangs gar nicht über die Straße getraut bei dem Verkehr.“

Hinzu kommt, dass Ingeborg, die immer eine gute Schülerin war, im Westen kein Abitur machen kann. Ihr fehlen die Fremdsprachen, denn sie hat nur Russisch gelernt. Also beginnt sie eine Lehre als Industriekauffrau und verdient ihr erstes eigenes Geld – 75 Mark im ersten Lehrjahr. Die Arbeit macht ihr Spaß und nach drei Jahren darf sie bereits in der Finanzbuchhaltung arbeiten. „Ich war erst 18 und kriegte schon 320 Mark. Da war ich ganz stolz.“

Hochzeit, Kinder und Scheidungen

Über ihre Eltern lernt Ingeborg ihren ersten Mann Kurt kennen. Sie selbst findet ihn eigentlich uninteressant, aber die Neugier siegt. „Ich hatte ja keinen Freund und die Mädchen erzählten immer so viel,“ erinnert sich Ingeborg Krölke lachend. „Da ist es dann passiert und meine Tochter Martina war auch gleich unterwegs. Wir haben dann 1961 geheiratet.“ Sie heiratet nur, weil die Konventionen dies verlangen. „Ich wollte, dass mein Kind ehelich geboren wird, aber den Mann wollte ich nicht. Deshalb habe ich mich gleich wieder scheiden lassen.“ Ihre Eltern unterstützen sie mit ihrem Kind. Vor allem ihr Vater kümmert sich liebevoll um die kleine Martina, so als wolle er nachholen, was er bei seiner eigenen Tochter versäumt hatte.

Es ist auch ihr Vater, der Ingeborg zwei Jahre später mit dem Mann zusammenbringt, dessen Namen sie trägt: „Krölke“. „Er sah aus wie mein Vater – sehr gut aussehend.“ Er macht ihr an der Straßenbahnhaltestelle einen Heiratsantrag und will nicht eher einsteigen, bis er ihre Antwort hat. Doch Ingeborg lässt sich Zeit. Eigentlich wollte sie ja nicht mehr heiraten. Es ist seine Hartnäckigkeit, die dann doch ihren Widerstand bricht: „Ja gut, damit du endlich deine Bahn kriegst“, sagt sie schließlich. Sie heiratet 1964 zum zweiten Mal und bekommt 1967 eine zweite Tochter: Viola. 12 Jahre später lässt sie sich jedoch erneut scheiden. Der Mann ist als Fernmeldetechniker oft im Ausland und lässt sie mit den beiden Kindern allein. Als sie dann auch noch herausfindet, dass er mit ihren besten Freundinnen anbandeln wollte, zieht sie einen Schlussstrich. „Ich habe ihn zur Rede gestellt und ihm gesagt, bei mir ist bei sowat Feierabend.“

So konsequent sie ist, wenn sie merkt, dass eine Beziehung für sie nicht mehr funktioniert, so sehr glaubt sie aber immer noch, dass sie eines Tages den Richtigen finden wird. Und tatsächlich verliebt sie sich erneut. „Ich habe wirklich sehr, sehr schöne Jahre mit Norbert verbracht“, erinnert sich Ingeborg Krölke seufzend. Endlich hat sie ihre große Liebe gefunden, wie sie damals meint. Für Norbert wird sie zur Hausfrau, hat endlich genug Zeit für ihre Kinder und verwöhnt ihren Lebensgefährten so gut sie kann. „Der wusste ja nicht mal, wo ein Wasserglas steht. Ich habe ihm die Türen aufgemacht, wieder zugemacht und ihm seine Sachen hingelegt.“

Enttäuschung und Aufbruch

Lange scheint alles perfekt. Dann kommt ihr Partner plötzlich von einer Geburtstagsfeier nicht mehr nachhause. Vor Sorge wird Ingeborg fast verrückt. Irgendwann ruft er an, verlangt nach frischer Wäsche, die sie ihm ins Geschäft schicken soll, kommt aber nicht nachhause. Erst am dritten Tag erfährt Ingeborg von einem Freund, dass ihr Lebensgefährte mit einer anderen Frau zusammen ist. Ingeborg Krölke hält kurz inne beim Erzählen und sagt dann kichernd: „Manchmal denke ich heute, dass er sich nicht nachhause getraut hat, weil ich wohl mal im Freundeskreis gesagt habe, ich würde ihm bei Betrug im Schlaf sein Ding scheibchenweise abschneiden.“ Da ist es wieder, das junge Mädchen mit dem Schalk in den Augen.

1987 steht Ingeborg Krölke somit plötzlich auf der Straße. Der Mann ist weg, sie hat weder Wohnung noch Arbeit und sie weiß nicht, wie es weitergehen soll. In ihren alten Beruf der Finanzbuchhaltung kann sie nicht zurück, da dort mittlerweile Computer eingesetzt werden. Das hat sie damals nicht gelernt. Doch sie hat ein gutes Netzwerk von Freunden und Nachbarn. Als erste hilft ihr ihre Kosmetikerin, die ihr einen kleinen Aushilfsjob in ihrem Geschäft anbietet. Schon bald merkt Ingeborg, dass ihr dieser Beruf großen Spaß macht und sie Talent hat. Sie möchte unbedingt mehr darüber lernen. Also fährt eine Nachbarin mit ihr alle Ausbildungsschulen ab, bis sie sich für eine entschieden hat und mit 46 Jahren eine Ausbildung als Kosmetikerin und Fußpflegerin beginnt.

In dieser Zeit leidet Ingeborg immer noch sehr unter der großen Enttäuschung, die sie in ihrer Beziehung erlebt hat. Zwölf Jahre lang hatte sie keine Sorgen, war verliebt, reiste viel und ging in der Rolle der Hausfrau vollkommen auf. Jetzt fühlt sie sich wie betäubt. Doch sie sucht nach Möglichkeiten, um besser damit umzugehen und ist offen für Neues. Bei der Heilpraktikerin Yashi Kunz belegt sie Kurse zur Selbstheilung, Homöopathie, Fußreflexzonentherapie, zum autogenen Training und vor allem zur Meditation. Sie lernt, wie man gedanklich durch den ganzen Körper geht und dabei Zelle für Zelle anspricht. Die Beschäftigung mit sich und die Kontaktaufnahme mit ihrem Körper tun ihr gut, und sie meditiert auch heute noch jeden Tag mehrmals.

Vorher

1989 schließt sie ihre Ausbildung erfolgreich ab und kann im Mai 1989 bereits ihr eigenes Kosmetikgeschäft in der Lübecker Straße in Berlin-Moabit eröffnen. Es ist ein großes Projekt, das sie fast allein, bzw. mit der Unterstützung guter Freunde und natürlich mit Handwerkern stemmt. Das Ladengeschäft muss vollständig saniert und umgebaut werden. In einem Fotoalbum hat sie die Anfangszeit dokumentiert. Die grellen Tapeten aus den 70er Jahren hängen in Streifen von der Wand, dahinter das rohe Mauerwerk und überall Staub und Dreck. Die gesamte Ausstattung ist aus
den 60er Jahren und muss komplett ersetzt werden. Nach und nach entsteht aus den dunklen Räumen mit niedrigen Decken, ein einladendes helles Geschäft mit Spiegelschränken, Kronleuchter und Erinnerungsstücken von Reisen.

Vertrauen

Ingeborg Krölke ist voller Energie, doch die Selbständigkeit ist auch schwer. „Ich hatte ja praktisch kaum Geld und es war Glück, dass meine Lebensversicherung gerade fällig wurde. Die habe ich dann komplett ins Geschäft gesteckt.“ Sie ist fest davon überzeugt, dass die Dinge immer gut ausgehen werden – egal wie schwierig sie gerade scheinen. „Ich fühle mich immer beschützt und glaube fest an den Spruch meiner alten Tante: Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.“ Diesen Spruch hat sich Ingeborg an die Wand gehängt. „Es gab schon so oft Situationen, wo ich dachte, oh Gott, Monatsende, Miete, Krankenkasse, Versicherung. Dir fehlt noch soundsoviel. Und dann habe ich gedacht, bleib ganz ruhig, es sind noch zwei Tage.“

In einem ihrer Behandlungsräume steht ein großer hölzerner Buddha. Immer, wenn Ingeborg Krölke mit einem Problem zu kämpfen hat, geht sie zu ihm und umgreift seine nach oben gereckten Holzhände. Sie empfindet dann tiefe Ruhe und Kraft und ist ganz bei sich. Sie ist überzeugt, dass neben guten Freunden auch er seinen Anteil daran hat, dass sie immer wieder wie durch ein Wunder aus finanziellen Engpässen gerettet wurde. „Immer, wenn ich mit ihm gesprochen hatte, kam plötzlich eine Kundin und wollte eine Sauerstoffbehandlung oder einen Wickel oder ein 10er-Abo – das sind meine teuersten Angebote. Da war ich dann jedesmal gerettet. Ick mach mir da heute gar keinen Kopp mehr.“

“Meinen Schnupfen habe ich am Wochenende.”

Allerdings verlässt sie sich nicht in allem auf Buddha, sondern weiß auch, dass vieles durch sie selbst entstanden ist. „Ich habe vor allem von meinem Vater viel gelernt. Er legte immer sehr viel Wert auf Pünktlichkeit, Ehrlichkeit und Fleiß. Er hat immer gesagt ‚des Soldaten Pünktlichkeit ist fünf Minuten vor der Zeit‘.“ Es sind wohl vor allem der Fleiß und das Durchhaltevermögen, die Ingeborg Krölke prägen. „Ich muss schon die Treppe runterfallen und mich nicht mehr bewegen können, dass ich im Bett bleibe. Aber ansonsten bin ich immer hier. Meinen Schnupfen habe ich am Wochenende.“ Warum sollte sie auch zuhause bleiben, wenn sie in ihrer Arbeit keine Belastung, sondern eine Bereicherung sieht? Sie möchte auf jeden Fall solange arbeiten wie möglich, wenn es geht, sogar noch zehn Jahre. Dann ist sie 87.„Ich bedaure all die Menschen, die wirklich denken, ach schon wieder Montag. Ich kann mir keinen schöneren Beruf als meinen vorstellen und komme immer gern in mein Geschäft.“

Ingeborg betreut viele ihrer Kunden schon jahrelang. Mit viel Einfühlungsvermögen berät sie junge Menschen zu ihren Akneproblemen oder verordnet manch älterem Herrn, er möge zu seinen Füßen „nett sein“ und sie ordentlich pflegen. „Da ist mein Alter ein Vorteil, denn ich kann auch mal schimpfen,“ sagt Ingeborg lachend. Zu ihren Kunden hat sie oft eine ganz besondere Beziehung, da viele ihr sehr private Dinge erzählen. Sie hilft bei allen Problemen so gut sie kann. Oft reicht schon ein gutes Gespräch oder jemanden in den Arm zu nehmen. „Einige kommen mit hängendem Kopf und wenn sie gehen, sind sie ein bißchen aufgemuntert. „Das macht mich glücklich!“

Die wahre Liebe

Ingeborg Krölke liebt die Menschen, das merkt jeder, der mit ihr zu tun hat. Kundinnen, die aufgrund ihres Alters nicht mehr kommen können, betreut sie zuhause oder in ihrem Pflegeheim weiter. Für andere, die direkt von der Arbeit zu ihr hetzen, kauft sie extra Brot ein, damit sie erst einmal etwas zu essen bekommen. Vor einiger Zeit hat sie eine Sammelaktion gestartet. In ihrem Geschäft steht ein Regal mit Büchern, die sie von ihren Kunden geschenkt bekommt. Gegen eine kleine Spende kann sich jeder etwas aussuchen. Mit diesem Geld unterstützt sie zwei Kitas in der Nachbarschaft, die davon Bastelsachen oder Spiele kaufen können.

Mit fast allem ist Ingeborg Krölke im Reinen – ihrem Beruf, ihrem Leben, ihren Kindern. Aber mit einem kann sie sich nicht abfinden: ihrem schlechten Gehör. In den stressigen Anfängen ihrer Selbständigkeit wurde ein Hörsturz nicht erkannt und somit nicht behandelt. Seitdem hört sie jedes Jahr schlechter. „Da klappt irgendwie die Zusammenarbeit mit Buddha nicht“, sagt Ingeborg lachend. „Ich weiß einfach nicht, was mir das Universum da beibringen möchte. Vielleicht Abschalten.“ Für sie ist das ein großer Kummer. Sie kann weder richtig Radio hören, noch ins Kino oder Theater gehen. Neuen Kunden sagt sie daher anfangs Bescheid, damit sie möglichst deutlich mit ihr sprechen. Und wenn sie einen Anrufer nicht versteht, reicht sie schon mal den Hörer an eine Kundin weiter, damit die für sie die Informationen aufnimmt. „Irgendwie komme ich schon klar. Ich weiß ja, ich kann da nichts dran ändern.“

Manchmal denkt sie noch daran zurück, wie hilflos sie sich fühlte, als ihre große Liebe sie verließ. „Heute denke ich, ich würde mich sehr gern bei ihm bedanken. Hätte er mich damals nicht verlassen, wäre ich nicht die, die ich heute bin.“ Durch ihn hat sie ihre wahre Liebe erst gefunden. Und die hält nun schon fast 30 Jahre: Ein selbstbestimmtes Leben in ihrem Traumberuf.

Ingeborg Krölke trifft man hier:

Fußpflege u. Kosmetisches Institut Ingeborg Krölke
Lübecker Str. 44
10559 Berlin

Tel / Fax: 030 3941244

Petrus Akkordeon

Der Berliner Künstler Petrus Akkordeon verbrannte früher Bücher und warf Farbeimer aus Unifenstern. Heute pflanzt er Blumen auf unwirtlichen Verkehrsinseln und liest Gedichte unter Autobahnbrücken vor. In einer einjährigen Kunstaktion versucht er zum Hirsch zu werden und irritiert damit Schamanen, Jäger und Juristen.

Petrus Akkordeon steht mit einer Axt im Souterrain einer alten Villa in Berlin-Lichterfelde. Der Kontrast könnte nicht stärker sein: Oben das hochherrschaftliche Haus mit Fresken am Eingang, hohen Fenstern und einer weiß leuchtenden Fassade und unten die niedrigen Räume von Petrus. Seit seiner Geburt hat er hier gelebt – als jüngstes Kind seiner Eltern mit Bruder Roland und seinen Schwestern Pia und Daniela. Seine Freundin Tanja gesellte sich nach der Schulzeit ebenfalls dazu. Diese Zeit endet heute. Denn heute ist der Tag, an dem Petrus sein Atelier zerhackt. Die Räume, in denen der 46-Jährige sein ganzes Leben verbracht, gezeichnet, illustriert und gedichtet hat, wird er heute verlassen. Er hat letzte Weihnachten die Kündigung bekommen – die Frist ist nun abgelaufen. Die Villa wird saniert und umgebaut – der über 100jährige Garten muss einem Neubau weichen.

„Ich habe 30 Jahre lang als Butler und Gärtner für Margret, die alte Dame oben, gearbeitet“, sagt Akkordeon und zeigt mit dem Finger an die Decke. Ihr fühlte sich Petrus sein Leben lang menschlich sehr verbunden, und sie behandelte ihn wie ein Familienmitglied. Doch letzten September fand Petrus die 86-Jährige sterbend in ihrem Zimmer auf dem Boden. „Nun braucht sie mich nicht mehr“, sagt Petrus leise. „Ich hatte Margret versprochen, dass ich mich bis zu ihrem Tod um sie kümmere.“ Mit Margret hat er nicht nur einen sehr nahestehenden Menschen verloren, sondern gleichzeitig seine Wohnung und seine Arbeit.

“Meine Kindheit war so Scheiße, dass mir die jetzige Situation leicht fällt”.

Sein Atelier, in dem er in gefährlich schwankenden Stapeln seine Kunst aufbewahrt hatte, ist nur noch ein Trümmerhaufen. Über tausend Bilder hat er nicht unterstellen können, als er aufgrund der Räumungsfrist ausziehen musste. Sie wurden nun zerstört. Für jemanden, der kein einziges seiner Kunstwerke je weggeworfen hat, ist dies eine harte Probe. Da Petrus gerade eine dreijährige Ausbildung zum Altenpfleger begonnen hat, blieb ihm einfach keine Zeit, alles auszuräumen. „Ich stehe morgens um halb fünf auf, fahre zur Arbeit, arbeite acht Stunden oder mache Doppelschichten und habe auch noch ein Pferd, um das ich mich kümmern muss.“ Doch Petrus findet trotz allem, dass er es besser als andere hat: „Meine Kindheit war so Scheiße, dass mir die jetzige Situation leicht fällt, weil ich ja trainiert bin.“

Wenn Akkordeon von seinem Leben erzählt, hat man Mühe ihm zu folgen. Zu viel scheint passiert, um es lange zu erklären. Jeder seiner knapp formulierten Sätze erzeugt Erstaunen und weckt Zweifel. Sein Vater ein Fremdenlegionär, die eine Schwester Sängerin, die andere fast taub, sein Bruder ein Tattookünstler, seine Oma psychotisch, die Mutter dement, er selbst Veganer, Butler, Künstler, Guerilla-Gärtner und nun angehender examinierter Altenpfleger. Für Akkordeon ist das Anderssein das Normale.

“Entweder werde ich Künstler oder ich bringe mich um”.

Akkordeon lebt schon als Kind in seiner eigenen Welt der Kunst. Das reale Familienleben hingegen wird vom Vater beherrscht. Der alkoholkranke französische Ex-Fremdenlegionär kehrt traumatisiert aus dem Algerienkrieg zurück und kommt als Alliierter nach Berlin. Als ein Freund in seinem Beisein von einer gerissenen Panzerkette enthauptet wird, verlässt er die Armee. Er ist mehrfach traumatisiert, psychisch krank und nun sogar obdachlos. Auf einer Bank vor einer Kirche in Berlin-Steglitz trifft er Petrus’ Mutter, die ihn später heiratet. Zukünftig wird die ganze Familie unter ihm leiden, da er täglich seine Kriegstraumata neu durchlebt.

Abgehackte Köpfe und verbrannte Menschen

„Er hat uns von abgehackten Köpfen und Menschen erzählt, die die Soldaten mit Flammenwerfern verbrannt haben, weil sie ihnen kein Wasser geben wollten. Ich habe mir das als Kind jeden Abend anhören müssen“, sagt Petrus. „Immer wieder hat er auch gedroht, uns umzubringen.“

Doch die Mutter wagt nicht, den Mann zu verlassen, da sie fürchtet, er würde seine Morddrohungen dann wahr machen. Akkordeon lernt, Wut und Trauer nicht zu zeigen, um den Vater nicht zu provozieren. Er malt und zeichnet stattdessen exzessiv und schläft teilweise nur drei Stunden am Tag. Solange er malt, ist er Künstler, kann selbst entscheiden, was er tut. Seine Werke signiert er je nach Stimmung mit wechselnden Namen und absurden Jahreszahlen – hier hat er die Kontrolle, nicht der Vater.

In der Pubertät schlägt Angst in Hass um, Akkordeon will sich physisch wehren. „Ich habe mir eine Axt gekauft und sie ständig am Gürtel getragen.“ Er trainiert sogar für den möglichen Kampf und entschließt sich dann doch aus Vernunft dagegen. „Ich folge meinen Gedanken immer bis ins Extremste, weil ich das spannend finde. Aber dann setze ich sie nicht in die Tat um.“ Als sein Vater von ihm verlangt, eine Lehre zu beginnen, revoltiert er und droht in einer Sprache, die der Vater versteht: „Entweder werde ich Künstler oder ich bringe mich um.“ Diesen Kampf gewinnt Akkordeon, der zu diesem Zeitpunkt noch Jean-Pierre Batailde heißt.

Er beschließt, Petrus Akkordeon zu sein

Mit 18 trennt sich Akkordeon von dem verhassten Namen des Vaters und beschließt, Petrus Akkordeon zu sein. „Ich habe mir einfach eine neue Biografie erbaut, die mir gefallen hat.“ Die Entscheidung fällt, während er im Schulunterricht den Film „Panzerkreuzer Potemkin“ sieht und dabei einen Akkordeon spielenden Matrosen zeichnet. Wie so oft bei ihm, klingt auch diese Geschichte frei erfunden, aber das Bild mit dem Matrosen gibt es tatsächlich. Er hat es in Großbuchstaben mit Akkordeon signiert. „Ein Sammlerstück für meinen späteren Weltruhm“, wie er augenzwinkernd sagt.

Druck von Petrus AkkordeonAkkordeon fällt bereits in seiner Schulzeit mit ungewöhnlichen Aktionen auf. Ihn fasziniert, wie man Sichtweisen und dadurch die Realität verändert. Als 1990 sein Vater stirbt, will Akkordeon den Tod besser verstehen. Er bringt an einem Freitag einen großen Rinderknochen in die Schule und legt ihn in eine Glasvitrine der Kunst-AG in die Sonne. Die Vitrine schließt er ab. Am Montag zieht Verwesungsgeruch durch die Schule und die Lehrer sind empört. Akkordeon weigert sich eine Woche lang, die Vitrine wieder aufzuschließen. Er will unbedingt etwas sichtbar machen, was man sonst nicht sehen würde und nimmt dafür jeden Ärger in Kauf.

Alltägliches in Kunst verwandeln

Dieser Ansatz zieht sich bis heute durch viele seine Aktionen, die mittlerweile jedoch deutlich weniger provokant sind. Heute will er vor allem Alltägliches in Kunst verwandeln, den Alltag „poetisieren“. Er bietet dazu Spaziergänge in der Natur an, bei denen die Teilnehmer Gedichte verfassen sollen, um sie den Bäumen vorzulesen. Oder er liest wie beim Internationalen Literaturfestival „Radaugedichte“ unter einer Autobahnbrücke vor, die keiner versteht, weil der Verkehrslärm darüber brüllt. Akkordeon erzeugt durch seine absurden Aktionen einen neuen Blick auf Orte, an denen man sonst unachtsam vorbei gehen würde. Den kommerziellen Erfolg sucht er damit nicht, denn für ihn ist die Kunst selbst das Wichtige.

“Wenn ich etwas behaupte, dann ist es eben da”.

Doch Erfolg stellt sich manchmal unerwartet ein. Als er beginnt, zu spontanen Pflanzaktionen auf hässlichen Berliner Verkehrsinseln und anderen öffentlichen Orten aufzurufen, interessieren sich die Medien plötzlich für ihn. Denn „Guerilla-Gardening“ ist gerade en vogue und klingt gefährlich. Akkordeon erhält Anfragen aus der ganzen Welt, wird gefilmt mit Spitzhacke und Spaten am Potsdamer Platz oder am Reichstag und erntet Geraune, wenn er den Journalisten mit hochgezogenen Augenbrauen von den „hohen Strafen für illegales Pflanzen“ erzählt. Akkordeon spielt gern mit den Erwartungen der Journalisten und führt sie damit gleichzeitig in die Irre. Niemand kann bei ihm sicher sein, dass er nicht unvermittelt selbst zum Kunstobjekt wird. Auch sein „Journalistengarten“ ist so entstanden. Als er merkt, dass Reporter immer wieder fragen, ob er ihnen eine verbotene Aktion an einem interessanten Ort zeigen könne, führt er sie an den unspektakulären Teltowkanal im abgeschiedenen Südberlin. Er lässt sie am Kanal selbst zur Schaufel greifen. Indem sie graben, säen, filmen und fotografieren, schaffen sie sich ihre Aktion selbst und merken es gar nicht. Akkordeon ist sich sicher: „Wenn ich etwas behaupte, dann ist es eben da“.

Denk dir einen Würfel – und denke ihn wieder weg

Ursprünglich wollte Akkordeon freie Künste an der Hochschule der Künste (HdK, heute UdK) in Berlin studieren, wurde jedoch abgelehnt. 1992 erhält er einen Studienplatz für Kunstlehrer und trifft in seinem Studiengang auf Professoren, die eher die Techniken der Kunst vermitteln wollen. Sie legen den Kunstbegriff sehr eng aus. Für Akkordeon kann jedoch Kunst durchaus etwas sein, das nur in der Vorstellung existiert. Seiner Dozentin Britta Clausnitzer präsentiert er in einem Seminar ein Kunstwerk in Form eines reinen Textes: „denk dir einen würfel mit der kantenlänge von einem meter, er schwebt in deiner augenhöhe in einem abstand von einem meter und dreht sich sehr langsam im uhrzeigersinn um seine eigene achse. komme in 24 stunden wieder hier her und denke ihn weg.“

Die Malerin Clausnitzer sieht darin Kunst, die jeden Betrachter verführe, die Welt durch eigene gedankliche Assoziationen neu zu schaffen und zu poetisieren. Doch nicht alle sehen dies so. Einige Professoren lehnen es strikt ab, Akkordeons Kunst anzuerkennen. Doch trotz aller Anfeindungen ist Akkordeon absolut überzeugt von seiner Arbeit. „Petrus fand es grundsätzlich unter seiner Würde, seine Kunst zu erklären“, sagt Clausnitzer und lacht. „Er empfand es eher als Affront, dass Kunstprofessoren ihr eigenes Fach nicht verstanden.“

F. W. Bernstein: “Ich bin immer noch ein großer Bewunderer von ihm”.

F.W. Bernstein

F.W. Bernstein signiert „Zack die Ente“

Akkordeon polarisiert. Mit wildem Bart, langen Haaren, einer weiten weißen Hose mit Farbflecken und einer Axt am Gürtel stößt er in dieser Zeit häufig auf Ablehnung. Zudem wirken viele von Akkordeons Aktionen provokativ. So wirft er beispielsweise Farbeimer aus dem Fenster des ersten Stocks in den Hof der Universität. Oder er zündet vor den Augen der entsetzten Professoren im Lehrerseminar Bücher an, weil er eine Diskussion über das Bücherverbrennen anstoßen will. Der bekannte Titanic-Karikaturist F.W. Bernstein, der Akkordeon an der Uni unterrichtet, beschreibt ihn als einen „unglaublich produktiven und dabei kompromisslosen Künstler“, der jedoch nicht aktiv die Provokation suchte. „Akkordeon machte Kunst einfach so, wie er sie für richtig hielt und nahm dabei keinerlei Rücksicht auf mögliche Konsequenzen. Ich bin immer noch ein großer Bewunderer von ihm.“

1999 gründet Akkordeon gemeinsam mit Freunden an der HdK den „Kunstkampfverlag“, der den „antikommerziellen Weltruhm“ zum Ziel hat. Gemeinsam mit seinem Künstlerfreund Georg Kakelbeck produziert er jede Woche ein Heft mit eigenen Zeichnungen und Lyrik, das sie auf Schwarz-Weiß-Kopierern herstellen und in Minimalauflagen von zehn Stück auf den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt anbieten – mit mäßigem Erfolg, aber dadurch tatsächlich strikt antikommerziell.

Von dem jungen Wilden mit Axt im Gürtel, ist heute nichts mehr zu erkennen. Akkordeons lockige dunkelbraune Haare sind zu einem Pferdeschwanz gebunden, sein Bart ist gepflegt und er trägt eine Jeans und einen dunklen Pullover zu schwarzen Outdoorstiefeln. Seine Augen haben etwas Sanftes und gleichzeitig Schalkhaftes, wenn er von seinen Kunstprojekten erzählt. Das Studium hat er schließlich 2003 nach zehn Jahren beendet, als der Fachbereich Kunstpädagogik aufgelöst wurde.

Petrus Akkordeon mit Hirschmaske auf seinem Pferd Norman.

Petrus Akkordeon mit Hirschmaske auf der Stute Butternase.

Der Mann, der ein Hirsch werden wollte

Akkordeon arbeitet künstlerisch hauptsächlich mit der Darstellung von Tieren, sowohl in seinen Zeichnungen als auch in Gedichten. Mit wenigen Pinselstrichen bringt er sie humorvoll und ausdrucksstark aufs Papier oder drückt seine Verbundenheit in Gedichtzeilen aus: „Überall sind diese Leute, gestreifte Wesen. Manchmal wäre ich gern ihr Freund. Möchte mich an ihnen reiben bis sie krallenscharf mich Nähe lehren.“ Vielleicht ist es diese Sehnsucht nach Nähe, die ihn 2009 auf den Gedanken bringt, in einem einjährigen Kunstprojekt das Hirschwerden zu probieren. Den Startpunkt legt er auf seinen Geburtstag, den 27. September – eine Wiedergeburt als Hirsch. „Wie man ein Hirsch wird“ ist für Akkordeon eine der schönsten, aber auch eine der schwierigsten Aktionen, die er je gemacht hat. Sie vereint seinen Wunsch, Realität allein durch Vorstellungskraft zu verändern mit seinem Talent, Menschen dazu zu bringen, seine Vorstellungswelt zu teilen. Akkordeon geht das Projekt ganz pragmatisch an. „Ich habe mir überlegt, was man braucht, um ein Hirsch zu werden und habe dann im Internet nach Angeboten gesucht.“

Wie es ist, vier Beine und ein Geweih zu haben

Nach anfänglicher Skepsis lassen sich tatsächlich einige „Experten“ auf ein Gespräch mit Akkordeon ein. Sie alle setzen sich mit dem Gedanken auseinander, es wäre tatsächlich möglich, sich in einen Hirsch zu verwandeln. Selbst eine Tierärztin, die als Naturwissenschaftlerin sicher nicht an Illusionen glaubt, gibt ihm praktischen Rat: Er solle sich einen Lebensraum suchen, der für Hirsche zum Schlafen und Essen geeignet wäre. Und mit einem Juristen, der sich sonst mit trockenen Paragraphen beschäftigt, führt Akkordeon eine ernste Diskussion darüber, ob man als Mensch seine Menschenrechte abgeben und gegen den Tierstatus tauschen könne. Als eine Jägerin überrumpelt zugibt, dass sie Akkordeon für einen Hirsch halten könnte, wenn sie einen Hirsch erwarten würde, hat Akkordeon sein Ziel erreicht: Jemand hat ihn tatsächlich als Hirsch gesehen, wenn auch nur für kurze Zeit.

Auch er selbst denkt sich hinein in das Hirschsein, stellt sich vor, wie es im Alltag wäre, vier Beine und ein Geweih zu haben. Das geht so weit, dass er nicht mehr Auto fährt, weil ihn sein Geweih dabei stört. Außerdem ernährt er sich vegan wie Hirsche auch. Nach einem Jahr und weiteren Gesprächen mit dem Berliner Wildtierexperten Derk Ehlert, einem Schamanen, einem Philosophen und einer Reiki-Meisterin, schließt er sein Projekt schließlich offiziell ab.

“Ich fühle mich immer noch wie ein Hirsch”.

Zeichnung von Petrus Akkordeon zum Thema "Hirsch"

Zeichnung von Petrus Akkordeon zum Thema „Hirsch“

Doch scheint die Aktion für Akkordeon noch nicht wirklich beendet zu sein. „Ich fühle mich immer noch wie ein Hirsch“, sagt er und betrachtet nachdenklich seine Füße auf dem Boden. „Und mir wächst langsam ein Geweih“. Er hebt den Kopf und sein Blick lässt keinen Zweifel zu. In der Vorstellung ist es plötzlich da: braun und mit spitzen Verzweigungen, schwebend über seinem Gesicht. Akkordeon lächelt zufrieden, ganz mit sich im Reinen.

Wenn es für ihn soweit ist, wird er einfach beschließen, etwas ganz anderes zu sein – ein Haselnussstrauch zum Beispiel.

Bücher von Petrus Akkordeon

1999 erschien das erste Buch „Der Froschkönig“ mit Gedichten und Zeichnungen von Petrus Akkordeon bei der edition wasser im turm.berlin.  Seitdem sind es bereits über fünfzig Bücher geworden, die unter anderem im Verlag Corvinus-Presse von Hendrik Liersch erschienen sind. Darunter „Zack die Ente“ mit Gedichten von F.W. Bernstein und Illustrationen von Petrus Akkordeon (2017).

Seine Bücher bekommt man u.a. bei: Corvinus-Presse , edition wasser im.turm.de, andante presse berlinmückenschweinverlag Stralsund, Verlagshaus Berlin.

Kontakt: pakkordeon@web.de
und auf Facebook: https://www.facebook.com/petrus.akkordeon

Hendrik Liersch

Einst Bausoldat und Möbeltischler in der DDR – heute Verleger,  Buchdrucker und Autor. Der Berliner Hendrik Liersch (55) hat sich nach der Wende bewusst für einen beruflichen Weg entschieden, den er in der DDR nie hätte gehen dürfen. Kompromisslos verlegt und druckt Hendrik heute nur Texte und Grafiken, die er selber mag. Den Staat um Erlaubnis fragen muss er nicht mehr. 

Die Druckerei von Hendrik Liersch liegt in einem Hinterhof in Berlin-Kreuzberg. Kein Schild weist darauf hin, nur Eingeweihte wissen, wo sie klingeln müssen. „Sonst komm ick hier nich zum Arbeiten“, kommentiert Hendrik trocken und gießt sich eine Tasse schwarzen Kaffee ein. Gedruckt wird, was ihm gefällt und in einer Form, die aus jedem Buch ein kleines Kunstwerk macht. Mit alten Druckmaschinen, per Handsatz oder Maschinensatz und auf unterschiedlichsten Papieren entstehen individuelle Künstlerbücher in vielen Formaten. Sammler und ca. 200 Universitätsbibliotheken aus aller Welt sichern sich regelmäßig die schönsten Exemplare.

Hendrik sitzt zusammen mit seinen beiden Druckereipartnern Harald und Dieter im Schatten einer alten Eberesche und genießt ganz offenbar den Augenblick. Er trägt ein schwarzes T-Shirt und Jeans, und hinter den ovalen Gläsern seiner  Metallbrille wandern seine Blicke hin und her, während er erzählt.

Gezeugt in Ahrenshoop

„Ich bin am 11. April 1962 in der Berliner Charité in der Tucholskystraße geboren und im Sommer 1961 in Ahrenshoop gezeugt“, sagt Hendrik. „Meine Mutter hat mir mal das Haus gezeigt, aber ich durfte nicht klingeln und mir auch das Zimmer angucken, obwohl ich sehr neugierig darauf war.“ So wie Hendrik davon erzählt, merkt man, dass es ihm als Kind schwergefallen sein muss, diese von außen gesetzte Grenze zu akzeptieren. Akzeptieren, was ihm nicht richtig erscheint – das geht nicht so ohne Weiteres. Das gilt auch für die Mauer, die seine Heimatstadt in Ost- und Westberlin teilte und die Bewohner willkürlich über Nacht zu Ossis und Wessis machte. Hendrik fühlte sich von Anfang an als Gesamtberliner: „Nur meine Heimatstadt hinkte hinterher und war noch geteilt.“ Durch seinen Vater, den Literaturkritiker und Schriftsteller Werner Liersch hat er auch Zugang zu West-Publikationen. „Ich habe schon immer Bücher und Magazine wie Spiegel und Stern gelesen und als kleines Kind bei uns zuhause die Schöpfer von Literatur aus Ost und West kennengelernt,“ sagt Hendrik. Was er auch lernt: Nicht jeder, der in der DDR etwas veröffentlichen möchte, darf dies auch tun.

Notfallpapa statt Alltagsvater

Als Hendrik vier Jahre alt ist, zieht er aus Neugier einen Bildband aus dem unteren Regal im Arbeitszimmer seines Vaters. Es ist ein Buch über Auschwitz und enthält verstörende Fotos von ausgemergelten Menschen, Haaren, Brillen, Toten. Diese frühe Begegnung mit der grausamen Geschichte des zweiten Weltkriegs hinterlässt einen tiefen Eindruck bei ihm und trägt dazu bei, dass Hendrik später alles Totalitäre ablehnt. Der schockierende Anblick führt damals dazu, dass er eine ganze Woche lang kein Wort mehr spricht. Seine Eltern sind besorgt, denn das Sprechen hatte er sowieso sehr spät begonnen. Hendrik musste erst Vertrauen fassen zur Welt, ihr eine Weile zuhören. Ein „erstes Wort“ sagt er nicht. Er beschloss einfach irgendwann, gleich in ganzen Sätzen zu kommunizieren. Das Verhältnis zu seinem Vater ist schwierig. Als bekannter Schriftsteller, der sogar in den Westen reisen darf, hat der wenig Zeit für seine Kinder Hendrik und Cornelia und Christine – die beiden älteren Geschwister von Hendrik. Als sich seine Eltern dann letztendlich scheiden lassen, leidet er – damals 9 Jahre alt – sehr darunter. „Ich hatte nie einen Alltagsvater, sondern immer nur einen „Notfallpapa“, sagt Hendrik. „Ich lernte früh, mich hauptsächlich auf mich selbst zu verlassen.“

Es ist wichtig zu wissen, was man nicht will

Wenn Hendrik heute erzählt, ist es schwer ihm zu folgen. Er gibt keine Antworten, sondern erzählt Geschichten. Verknüpft eine Episode seines Lebens mit einer anderen und vertraut darauf, dass der Zuhörer den Kreis schließen kann. Nicht immer möchte er alles sagen. Wie seine jetzige, zweite Frau Karen mit Nachnamen heißt zum Beispiel oder wie das Hotel heißt, das sie leitet. Dabei ist das natürlich schnell recherchiert. Offenbar wählt er mit Bedacht, was er preisgeben möchte und was nicht. Ähnlich geht er beim Drucken vor. Er weiß nicht, wieviele Bücher er schon gedruckt hat, aber das ist ihm egal. „Viel wichtiger ist doch, was ich nicht drucke“, sagt Hendrik. „Als Mensch ist es wichtig zu wissen, was du nicht willst“. Und das weiß Hendrik ganz genau und richtet sein Leben nach diesen Grundprinzipien aus. „Wenn du im Alter krank wirst, kannst du alles laufen lassen oder du kannst die Dinge steuern. Du entscheidest, ob du der verwirrte alte Mann sein willst oder ob du dir einen Waffenschein besorgst wie Gunter Sachs.“ Dabei hat Hendrik sein Leben lang Waffen abgelehnt. Bis heute geht er ausschließlich zu westdeutschen oder weiblichen Ärzten, weil er sicher sein will, dass sie keinen Militärdienst an der Berliner Mauer geleistet haben. „Ich möchte keinen Arzt haben, der an der Mauer geschossen hat. Wer studieren wollte, wurde ja vom Staat oft genötigt, drei Jahre an der Grenze zu dienen.“

Hendriks schwerster Kompromiss

Es scheint für Hendrik unerträglich, wenn andere ihn zwingen wollen, gegen seinen eigenen Willen zu handeln. Und doch musste er einmal den wohl schwersten Kompromiss seines Lebens eingehen. Als er als überzeugter Pazifist zur Nationalen Volksarmee (NVA) einberufen werden soll, steht er vor der Entscheidung, gegen seine Prinzipien zu handeln oder als Totalverweigerer für Jahre ins Militärgefängnis zu gehen. Da er weiß, dass er das Gefängnis aus psychischen Gründen nicht überleben würde, geht er den Weg des Bausoldaten – ein Wehrersatzdienst ohne Waffe, aber dennoch in Uniform bei der NVA. Bausoldaten standen auf der untersten Stufe der militärischen Hierarchie und waren Diskriminierungen und Repressalien ausgesetzt. Als Zwangsarbeiter füllten sie Lücken, wo Arbeitskräfte fehlten und mussten unter oft verheerenden  Arbeitsbedingungen schuften. Im Extremfall in den Chlordämpfen der Stahl- und Chemieindustrie z.B. in Merseburg. Nach der Bausoldatenzeit war ihnen dann zudem der Zugang zu vielen Berufen und zum Studium verwehrt. Hendrik bereitet sich auf die bevorstehenden Monate Zwangsaufenthalt und Fremdbestimmung mental vor, in dem er sich Unterstützung von seinem Freund Georg holt, der das Konzentrationslager Buchenwald überlebt hat. „Er sagte zu mir, du musst einfach gucken, dass du dich als Pflanze betrachtest und versuchst, da Wurzeln zu schlagen. Er meinte damit, ich solle mich darauf konzentrieren, was ich trotz der Situation noch machen kann – nicht darauf, was nicht mehr möglich ist“.

Bausoldat auf Rügen

1987 wird Hendrik als Bausoldat für Rügen einberufen kurz nachdem er geheiratet hat. „Sie wollten dich immer aus irgendwas rausreißen“, sagt Hendrik. „Kaum hattest du deine Ausbildung abgeschlossen oder als Künstler ein Engagement an einem Theater oder in einem Orchester erhalten, musstest du plötzlich innerhalb von einer Woche dein Leben komplett umkrempeln und zur Armee.“ Die Bausoldaten sind im durch die Nazis errichteten kilometerlangen KdF-Bau („Kraft durch Freude“) in Prora untergebracht. Er liegt parallel zum Strand und ist der größte Bausoldaten-Standort der DDR. 500 Bausoldaten sind dort als Teil von drei regulären Kompanien von insgesamt 15.000 Mann in Prora untergebracht.

Für 18 Monate sind die Soldaten jeweils zu sechst in 20-Quadratmeter-Zimmern einquartiert – ohne jegliche Privatsphäre. Der zwölfstündige Arbeitstag beginnt jeden Morgen um viertel vor vier und verlangt ihnen alles ab, wenn sie mit Spitzhacken und Schaufeln statt mit unterstützender Technik den Fährhafen Mukran bauen. Hendrik besinnt sich auf den Rat seines Freundes und konzentriert sich auf das, was gut ist. „Ich habe keinen einzigen Sonnenaufgang versäumt und dem Meeresrauschen zugehört“, sagt Hendrik und lächelt.  „Abends habe ich dann gelesen – zum Beispiel ,der Mann ohne Eigenschaften’ von Robert Musil, den ich innerhalb von drei Wochen durch hatte. Wo kannst du das sonst im normalen Leben?“

Nackt und vorgeführt

Dann geschieht etwas, worauf sich Hendrik nicht vorbereiten konnte: Seine Frau will sich von ihm trennen. Eingesperrt in der Kaserne und ohne Telefon, kann Hendrik weder zu ihr fahren noch mit ihr sprechen. Es stürzt ihn in eine tiefe Krise, dass man ihn nicht um seine Ehe kämpfen lässt. Er fühlt sich ausgeliefert und merkt, dass er dringend Hilfe braucht, weil er Selbstmordgedanken hat. Mitten in der Nacht versucht er, einen Militärarzt zu finden. Letztendlich wird er einem diensthabenden Orthopäden vorgeführt , der ihn nackt auf und ablaufen lässt. „Der hat dann erkannt, dass ich für zwei Wochen auf die geschlossene Abteilung gehöre“, sagt Hendrik, und es klingt sarkastisch. „Da durfte ich dann rumlaufen mit meinen schwarzen Halbschuhen ohne Strümpfe und in einem OP-Hemd bis zum Bauch, keine Unterhose kein nüscht. Das war Schikane oder wir waren einfach unwichtig für die“, sagt Hendrik.

Die Einweisung in die geschlossene Abteilung und ein von ihm veranlasstes Gespräch mit dem Standort-Kommandeur von Prora führen dazu, dass man Hendrik für die letzten Monate in Ruhe lässt. „Ich hatte plötzlich Narrenfreiheit,“ sagt Hendrik. „Die dachten, der hat sowieso ´ne Macke“.

Über die Zeit auf Prora hat Hendrik ein kleines Buch geschrieben und gedruckt (Ein freiwilliger Besuch – als Bausoldat in Prora, Corvinus Presse, 1997). Auch war er Mitbegründer des Vereins „Förderkreis Bausoldaten Prora e.V.“ und hat als Zeitzeuge in Schulen über seine Bausoldatenzeit gesprochen. Er wollte einerseits selbst das Thema verarbeiten und andererseits auch dafür sorgen, dass dieser Teil der DDR-Geschichte nicht komplett in Vergessenheit gerät. Auch ist er einer der wenigen, der einige Jahre später noch einmal zu den Ruinen in Prora zurückgekehrt ist, um für sich selbst einen Schlussstrich zu ziehen. Viele der einstigen Kameraden konnten das bis heute nicht.

Druckfreiheit

Mit der Wende steht Hendrik Liersch die Berufswelt offen. Er könnte sein Abitur nachmachen, studieren, Architekt werden oder auch in seinem gelernten Beruf des Möbeltischlers einen Meister machen. Doch diese Wege interessieren ihn nicht. Es muss ein Beruf sein, den er in der DDR niemals hätte wählen können: Verleger und Drucker. So gründet Hendrik 1990 den Einmannverlag Corvinus Presse (Corvinus = der kleine Rabe). Der Name ist eine Hommage an den Verleger und Schriftsteller Victor Otto Stomps, der 1926 den Verlag „Die Rabenpresse“ gegründet hatte. Im dritten Reich bot dieser Freiraum für Künstler, deren Werke von den Nationalsozialisten abgelehnt und teilweise sogar verbrannt worden waren. Hendrik Liersch sieht sich in dessen Tradition – sowohl in Bezug auf die hohe handwerkliche Qualität als auch der politischen Komponente. So gehören zu Hendriks Künstlerbüchern u.a. Werke von Henryk Bereska (Mitunterzeichner der Petition gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann) und Peter Will, der für regimekritische Gedichte drei Jahren lang in der DDR inhaftiert war.

Oft sind es auch Zufälle kombiniert mit Sympathie, die ein Kunstprojekt hervorbringen. 2005 führten drei Stunden Unterhaltung in der Warteschlange zur Goya-Ausstellung vor der Alten Nationalgalerie in Berlin zu zwölf Büchern mit dem Maler und Bildhauer Zoppe Voskuhl, mit dem er weiterhin regelmäßig eng zusammenarbeitet.

Respekt und Wertschätzung

Die Buchdruckkunst ist für Hendrik eine Herzensangelegenheit. Niemals würde er sich anbiedern, um einen wohlwollenden Artikel in einer Zeitung oder eine Erwähnung durch eine wichtige Persönlichkeit zu erreichen. „Es bringt mir nichts, wenn ein hochbezahlter Professor sagt „das ist aber ein schönes Buch“. Für ihn zählen die Sammler, die seine Drucke schätzen, sie kaufen und ein echtes Interesse an seiner Kunst haben. Hendrik mag sowieso vor allem Menschen, die wertschätzend und respektvoll mit ihm umgehen – egal wie nützlich er für sie ist. „Wenn ich auf Partys meine Ruhe haben will, dann sage ich nicht, dass ich Kunst drucke und Bücher mache, sondern, dass ich arbeitslos bin. Dann unterhalten sich viele nicht mehr mit dir, weil du plötzlich uninteressant bist.“

Gespräche führt Hendrik am liebsten mit viel Tiefgang: „Lieber ein intensives Gespräch mit einer Person auf dem Balkon, als Small Talk mit vielen im Partytrubel. Das ist nur Zeitvertrödelung, denn die wollen bloß herausfinden, ob du für sie nützlich bist.“

You can always print what you want

Genauso ist das mit der Kunst. Wenn ein Buch gut werden soll, braucht es intensive Auseinandersetzung und viel Zeit. Das ist einer der Aspekte, die den Verlag Corvinus Presse so besonders machen. Hendrik kümmert sich selbst um die Umsetzung und sorgt mit seinem geschulten Auge dafür, dass der künstlerische Inhalt mit den richtigen Farben, dem richtigen Papier und dem richtigen Format verbunden wird. „Ich habe dabei eine Ruhe und eine Kraft, die sich andere nicht gönnen. Ich will ja vermeiden, dass man kitschige Bücher in lila Einbänden macht.“ Die Gefahr besteht bei Hendrik Lierschs Verlag sicher nicht. Viele hundert Bücher hat er bereits gedruckt, und sie alle sind kleine Kunstwerke, die nur entstanden sind, weil Hendrik es so wollte. Ohne Schere im Kopf, ohne Einmischung von außen.

„Mein Motto ist you can always print what you want!“ sagt Hendrik lachend. Und er klingt frei als er den Rolling Stones Hit abwandelt.

Impressionen aus der Druckerei findet man auf Facebook.

Hendrik Liersch trifft man:

auf Facebook: https://www.facebook.com/CorvinusPresse/ 
im Internet: www.corvinus-presse.de
auf Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Hendrik_Liersch
auf der Messe: 13. BuchDruckKunst https://buchdruckkunst.com/die-messe/ – Erlesenes auf Papier im Museum der Arbeit, Hamburg (23. – 25. März 2018)

Kontakt:
corvinus@snafu.de

Auszeichnung:
2009 V. O. Stomps-Preis der Stadt Mainz für buchkünstlerische Leistungen

Susanne Feld

Susanne Feld (38) beschließt mit vier Jahren, in der Schule nur Einsen zu schreiben. Sie lernt Geige und Klavier, beginnt ein Studium und wäre fast Musiklehrerin geworden. Durch einen Aushang an der Uni wird sie neugierig auf Alexander-Technik, und nach wenigen Sitzungen ist sie ihre jahrelangen Schmerzen und Verspannungen in der Schulter los. Da beschließt sie, ihr Leben Schritt für Schritt umzukrempeln. Heute arbeitet sie als Alexander-Technik-Lehrerin, Gestalttherapeutin und Heilpraktikerin für Psychotherapie.

Susanne sieht jung aus mit ihren kurzen lockigen Haaren und dem verschmitzten Lächeln, das eine kleine Zahnlücke erkennen lässt. Ihre lichtdurchflutete Einzimmerwohnung im vierten Stock eines Berliner Altbaus in Prenzlauer Berg spiegelt wider, was Susanne wichtig ist: viel Raum. „Ich habe mich nach und nach von unnützen Dingen getrennt. Ein langer, aber sehr befreiender Weg“, sagt Susanne und breitet lächelnd die Arme aus.

Susanne hat ein Talent dafür, mit wenigen Dingen eine Atmosphäre der Weite, Leichtigkeit und gleichzeitig Geborgenheit zu schaffen. Auch im Zentrum für Alexander-Technik, das sie 2008 in Berlin-Mitte mitbegründet hat, haben die Räume diese besondere Ausstrahlung. Susanne arrangiert dafür Steine, Vasen, Blumen und Äste oder schreibt mit einem japanischen Pinselstift geschwungene Worte auf Zettel: „Stille“, „Raum“, „ich habe Zeit“.

„Ich beobachte, dass alle Menschen sich nicht gut genug finden und sich anders haben wollen. Das ist physischer Stress. Ich schaffe für sie einen Rahmen, in dem sie sich wohlfühlen und so sein können, wie sie sind. So kann alles auftauchen, was in diesem Moment auftauchen will, aber ohne dass etwas verändert werden muss. So kann sich auch der Körper mit entfalten. Wenn ich dazu beitragen kann, dann bereitet mir das eine große Freude.“

Susanne Feld war selbst nicht immer so ausgeglichen und im Reinen mit sich. Sie wuchs im rheinland-pfälzischen Norheim mit zwei älteren Schwestern und einem älteren Bruder auf. In ihrer Familie spielten alle mindestens zwei Instrumente und so schien auch ihr Weg als Musikerin vorgezeichnet. Susanne lernte mit sechs Jahren zunächst Geige und später Klavier. „Ich dachte damals, es sei normal, dass man sich dabei quälen muss und es keinen Spaß macht.  Deshalb habe ich meinen Eltern jahrelang nicht gesagt, dass ich Angst vor meinem Geigenlehrer hatte.“ Vielleicht war es aber auch der tiefe Wunsch nach Harmonie, denn die war ihr als Kind und Jugendliche sehr wichtig. Um Streit mit ihren Eltern zu vermeiden, schwor sie zum Beispiel ihrer Mutter mit vier Jahren, dass sie später in der Schule nur Einsen schreiben würde. „Wenn ich da heute dran denke, könnte ich schreien“, sagt Susanne und schreit tatsächlich. Ein langgezogenes „aaaaahhhh“ bricht aus ihr heraus. Sie muss lachen.

“Erst, wenn die Schmerzen groß genug waren, war ich überzeugt, dass ich wirklich genug geübt hatte”.

„Es ist Wahnsinn, wieviel wir uns selbst unter Druck setzen, um anderen zu gefallen oder eigene Ansprüche zu erfüllen.“ Als Susanne 1999 an der Universität Mainz zum Musikstudium auf Lehramt angenommen wird, ist sie im Dauerstress. Das tägliche stundenlange Üben der verschiedenen Instrumente, lässt ihre Schultern erstarren und die Geige hinterlässt Flecken am Hals, wo das Instrument angelegt wird. „Es war paradox, denn ich war erst mit mir zufrieden, wenn die Schmerzen groß genug waren. Dann war ich überzeugt, dass ich wirklich genug geübt hatte.“

Letztendlich sind es genau diese Anspannungen und Schmerzen, die dazu führen, dass Susanne ihrem Leben eine andere Wendung gibt. An der Uni hört sie von einem Kontrabassisten, der starke Armprobleme hatte und nicht mehr spielen konnte. Erst mit Alexander-Technik wird er seine Schmerzen los und kann sein Studium fortsetzen. Als sie dann einen Aushang sieht, auf dem eine Alexander-Techniklehrerin Stunden für nur 15 DM anbietet, ist ihre Neugier geweckt. Sie weiß nicht, was sich hinter dem Begriff verbirgt, und niemand scheint es richtig erklären zu können. „Ich ging da hin und war schon nach der ersten Stunde begeistert. Plötzlich fühlte ich mich ganz anders in meinem Körper und meine Schultern lösten sich. Ich lernte, wie es geht, mich selbst mehr in Ruhe zu lassen und so mit mir umzugehen, dass weniger Spannung entsteht. Bei ganz einfachen Tätigkeiten, wie dem Liegen, Sitzen, Stehen, Gehen unterstützt durch Berührung und Innehalten.“

“Da habe ich beschlossen, ich geh nach Berlin“.

Die Einzelstunden helfen ihr durchs Studium, doch Musiklehrerin will Susanne nicht mehr werden. Stattdessen beschließt sie 2005 nach dem ersten Staatsexamen, eine mehrjährige Ausbildung in Alexander-Technik zu machen, um anderen damit zu helfen. Bevor sie sich entscheidet, schaut sie sich verschiedene Ausbildungsklassen an. Als sie 2005 die Berliner Schule besucht, ist sie begeistert von der Stadt. „Es gab hier Brachen, breite Straßen und sehr viel Raum. Da habe ich beschlossen, ich geh nach Berlin.“

Dieser Entschluss erweist sich auch in musikalischer Hinsicht als eine gute Idee. Susanne ist zu dieser Zeit Teil des Duos „Erdbeerfeld“, in dem sie Geige spielt, singt und mit ihrem damaligen Mann Sascha auch Stücke komponiert. „Unsere Spezialität war, dass wir mit den Klängen vor Ort gespielt haben. Also zum Beispiel die Geräusche von Künstlern beim Malen oder Schnitzen oder von der Modedesignerin beim Schneiden von Stoff. Diese Aufnahmen haben wir dann in unsere Lieder eingebaut und mehrkanalig abgespielt. D.h. wir haben die Klänge im Raum verteilt und bewegt. Das war schon cool!“ In Berlin sind beide bald Teil der bunten Kunst- und der Musikszene und verdienen mit Auftragsarbeiten Geld. Die Projekte mit Erdbeerfeld sind fordernd, abenteuerlich, aber machen eine Menge Spaß.

Selbst als sich Susanne neu verliebt und eine neue Beziehung beginnen möchte, kann sie sich erst nicht vorstellen, damit auch das Duo zu verlassen – so sehr war sie mit dieser musikalischen Arbeit innerlich verbunden. Doch weitermachen wie bisher war emotional unmöglich.

Die Trennung von ihrem Mann 2009 ist ein Einschnitt in Susannes Leben. Plötzlich kommt alles auf einmal. Seit einem Jahr hat sie sich selbständig gemacht und muss nun nicht nur ihre eigene, sondern auch die Miete für die Räume in Alexander-Technik-Zentrum zahlen. Sie kämpft sich durch Formalien zur Krankenversicherung, Steuer und Scheidungsprozess und lässt sich coachen, um mit der Selbständigkeit besser klarzukommen. Um Geld zu sparen, gibt sie Alexanderstunden im Austausch für Kleidung. Die Berliner Designerin Betty Bund näht ihr ausgefallene Hosen und eine andere Freundin ungewöhnliche Oberteile. Auch Coachingstunden werden gegen Alexander-Technik getauscht.

“Es gibt da offenbar eine Seele in meiner Brust, die mich in Sachen reinstürzt, ohne nachzudenken“.

In ihrem Leben ist plötzlich so viel Bewegung, Veränderung, Emotion, dass Susanne spürt, dass sie selbst mehr über Psychologie wissen möchte. Als sie Ende 2009 auf einer Party im Gespräch mit einem Bekannten von einer tollen Gestalttherapieausbildung erfährt, ist sie sich sicher: Gestalttherapie ist das, was sie braucht. Ihr Entschluss kommt aus dem Bauch heraus und ist schnell gefasst: „Es gibt da offenbar eine Seele in meiner Brust, die mich in Sachen reinstürzt, ohne nachzudenken. Und plötzlich bin ich auf dem Weg.“ Die vierjährige Gestaltausbildung ist vor allem in den ersten zwei Jahren sehr herausfordernd. Gleichzeitig wird sie zum wichtigen Anker für Susanne in ihrem turbulenten Leben, das sich gerade vollkommen verändert hat. Sie muss sich nun intensiv mit elementaren Themen auseinandersetzen wie dem eigenen Sterben oder auch der Sexualität. „Zwei Jahre lang wurden wir in Selbsterfahrungsseminaren regelrecht durchgenudelt“, sagt Susanne. „Alles in der Gruppe, alles vor der Gruppe, alles in der Interaktion mit den Menschen. Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich es wohl nie gemacht.“

“Ich merkte, wie wichtig es mir ist, dass man den Menschen so lässt, wie er ist“.

Doch bereut hat sie nichts. Die Gestalttherapieausbildung führt bei Susanne dazu, dass sich auch ihr Blick auf die Arbeit in der Alexander-Technik verändert. „Ich merkte, wie wichtig es mir ist, dass ich den Menschen so lasse, wie er ist – vollkommen wertfrei. Daraus heraus können sich dann Veränderungen ergeben.“ Auch traut sie sich immer mehr, in den direkten Kontakt mit ihren Klienten zu treten, um herauszufinden, was sie bewegt und was sie von ihr brauchen, aber ohne sie „reparieren zu wollen“.

So wie Susanne früher das harmonische Zusammenspiel in Orchestern liebte, so begegnet sie heute auch ihrem eigenen Körper: aufmerksam, freundlich und vor allem annehmend. Dies vermittelt sie auch den Menschen, die zu ihr kommen. Es geht immer um eine Harmonisierung des Klang“körpers“.

Kein Körperteil spielt „forte“, sondern ist Teil einer Orchestrierung. Wer harmonisch spielen möchte, muss zunächst genau hinhören. Und darum geht es vor allem: Sich selbst wahrnehmen. Die Füße auf dem Boden spüren, den Raum wahrnehmen, in dem man sich bewegt, die von Susanne geführte Bewegung des Arms geschehen lassen. Hier steht der Körper im Mittelpunkt. Ein paar Schritte durch den hellen Raum mit Susannes Hand im Rücken geben Halt und gleichzeitig dem Körper das Signal „du kannst loslassen, dich neu organisieren.“ Besonders angenehm ist die Behandlung auf der Liege. Sie hat einen rutschfesten Überzug auf Fußhöhe, damit die Beine ohne Mühe aufgestellt bleiben können. Am Kopfende dienen zwei Bücher als Kopfkissen – das unterstützt die Entspannung der Hals- und Schultermuskeln.

Susanne beginnt ihr Behandlungskonzert, in dem sie den Kopf von hinten in beide Hände nimmt und ihn wenige Millimeter nach links und rechts dreht und wieder ablegt. Sie streicht über die Arme, legt ihre Hand auf den Brustkorb und bewegt nun erst den einen, dann den anderen Arm. Ganz langsam hebt sie ihn an, beugt ihn sanft und legt ihn wieder ab. Nach und nach bekommt jeder Teil des Orchesters seinen Einsatz.

„Ich bekomme das Feedback, dass die Menschen hier wirklich zur Ruhe kommen“, sagt Susanne. „Und das ist wirklich schon sehr viel.“

Susanne hat großen Erfolg mit ihren Einzelstunden, was sonst sehr ungewöhnlich ist, weil die Alexander-Technik nicht sehr bekannt ist. „Ich komme jetzt bereits an mein Limit. Ich mache die Einzelstunden natürlich sehr gern, aber wenn es zu viele werden, kann ich nicht mehr für jeden voll da sein.“ Auch das hat Susanne über die Jahre gelernt – eigene Grenzen erkennen und respektieren. Und so leben, dass man dabei nicht ausbrennt. Dies ist einer der Gründe, weshalb sie noch mehr für Gruppen anbieten möchte. Bereits jetzt organisiert Susanne gemeinsam mit ihrer Freundin Leonie von Arnim Gruppenworkshops für Frauen auf dem Land (Brodowin), aber auch offene Abendworkshops mit Gestalttherapie-Elementen im Zentrum für Alexander-Technik. Susanne ist überzeugt, dass innerhalb einer Gruppe Themen realer erlebt und ausprobiert werden, als im Einzelkontakt nur mit ihr. Inspiriert wird sie von den vielen Workshops und Kongressen für Alexander-Technik, die sie weltweit regelmäßig besucht. „Mit meinem gestalttherapeutischen Ansatz bin ich in der Welt der Alexander-Technik etwas speziell, aber ich möchte meine Sicht unbedingt weitertragen.“ Dies tut Susanne und genießt es, sich mit Lehrern in Australien, den USA, Großbritannien oder anderen Ländern in der Welt auszutauschen und gleichzeitig Freundschaften zu schließen.

“Ich mache jetzt Raum für Neues”.

„Mein großer Wunsch ist es, zukünftig noch mehr zu reisen und dabei gleichzeitig ortsunabhängig arbeiten zu können“, sagt Susanne, für die das Wort „Stillstand“ ein Fremdwort zu sein scheint. Online-Therapiesitzungen möchte sie entwickeln und Audiovisualisierungen aufnehmen, um sie online für Meditationen zur Verfügung zu stellen.

Ihre erste Reise hat sie schon fest geplant: zwei oder drei Monate Australien. „Ich verkaufe gerade meine Geige, um die Reise finanzieren zu können.“ Die Geige steht für einen Teil ihrer Vergangenheit – das Musikstudium und die Zeit im Duo Erdbeerfeld. Deshalb konnte sie sich lange nicht von ihrer Geige trennen. „Erst jetzt bin ich soweit. Immer wenn ich die Geige anfasse, merke ich, dass ich sie nicht mehr unter meinen Hals klemmen möchte. Stattdessen mache ich jetzt Raum für Neues“, sagt Susanne, und ihre Augen strahlen.

Susanne Feld trifft man im:

Zentrum für Alexander-Technik
Auguststraße 65
10117 Berlin-Mitte

Kontakt:
Tel: 030 52548801 oder 0177 6711177
kontakt@susannefeld.de
www.susannefeld.de

Viola Maczkowiak

Weight Watchers Coach, Moabiterin, Mutter. Früher wurde Viola rot, wenn sie vor Menschen sprechen sollte – heute leitet sie Gruppen.

Viola Maczkowiak (47) sitzt auf einem Stuhl und hält ein Heft mit Essensfotos in der Hand. Neben ihr auf einem Hocker liegen zwei sternförmige mit Sand gefüllte Kissen mit einem goldglänzendem Bezug. Jedes von ihnen wiegt genau drei Kilo und hat die Größe eines durchschnittlichen menschlichen Bauchs. In einem Stuhlhalbkreis um Viola herum sitzen zehn Frauen. Die meisten von ihnen sind zwischen fünfzig und sechzig, einige um die dreißig. Es gibt lässig gekleidete Frauen mit Turnschuhen und Sweatshirt, aber auch elegante, modisch frisierte Frauen mit Schuhen im Leopardenlook. Es handelt sich um ein Treffen der Weight Watchers – geleitet von Viola.

“Diesen Schritt habe ich bis heute nie bereut”.

Im Mittelpunkt zu stehen, hätte sich Viola früher niemals vorstellen können. Wenn sie in der Schule angesprochen wurde, versteckte sie sich mit hochrotem Kopf in der hintersten Reihe und sagte am liebsten nichts. „Ich hätte nie geglaubt, dass ich mal vor Menschen rede“, sagt Viola. „Geändert hat sich das eigentlich erst, als ich abgenommen hatte. Da wurde ich mutiger und habe auch gelernt, ab und zu einfach mal „nein“ zu sagen.“ Seit 2002 ist sie Weight Watchers Ernährungscoach und leitet mittlerweile seit 15 Jahren eigene Treffen. „Weil meine Freundin damals so fest an mich geglaubt hat, habe ich es geschafft, meine Angst abzulegen. Diesen Schritt habe ich bis heute nie bereut.“

Neben ihrer Arbeit als Coach ist Viola auch Verwaltungsangestellte im Rathaus. Aber ihre Motivation erhält sie vorwiegend von den Menschen in ihren Gruppen. „Ich erlebe es, dass Teilnehmer in Tränen ausbrechen, weil sie zum Beispiel 40 Kilo verloren haben. Ihr ganzes Leben hat sich dadurch verändert, und sie sind wahnsinnig dankbar für die Motivation und Unterstützung, die sie in den Treffen bekommen. Wenn ich das miterleben darf, weiß ich einfach, wozu ich das mache.“

Eine Teilnehmerin hat heute die „Drei-Kilo-Marke“ erreicht. Sie ist erst vor Kurzem bei den Weight Watchers eingestiegen. Viola reicht das goldene Sternkissen herum. „Hiermit könnt ihr selbst fühlen, wieviel drei Kilo ausmachen!“ Einige legen sich das Kissen um den Bauch und kichern. Die Gruppe klatscht Beifall.

Viola kündigt nun an, dass sie jetzt innerhalb weniger Minuten für alle ein leichtes und leckeres Eis herstellen wird. Viola ist bekennende „Thermomixerin“, und der Direktvertrieb ist ein weiteres berufliches Standbein von ihr. Sie ist fest davon überzeugt, dass das hochpreisige Küchengerät die Abnahme unterstützt und integriert die Vorführungen daher in manche Treffen.

Die Eisvorführung heute dauert nur fünf Minuten, dann sind Tiefkühlbeeren, Eiweiß und Vanillezucker gemixt und das fertige Eis wird herumgereicht. Die Teilnehmerinnen sind beeindruckt. „Als Ernährungscoach finde ich es großartig, wenn Menschen die Freude entdecken, ihr Essen mit frischen Zutaten selbst zuzubereiten. Und wenn der Auslöser der Thermomix ist, warum nicht?“

“Ich hätte da einen Neffen im Angebot…“

Aber der eigentliche Dreh- und Angelpunkt in Violas Leben sind die Weight Watchers. Sogar ihren Mann hat sie indirekt über ein Gruppentreffen kennengelernt.

„Ich habe damals im Treffen gesagt, dass ich einen Partner suche. Zwei Wochen später kam eine Frau auf mich zu und wollte wissen, ob das mein Ernst gewesen sei, sie hätte da einen Neffen im Angebot. Sie legte mir ein Passfoto und die Telefonnummer hin und meinte, ich solle da doch mal anrufen.“ Es dauerte dann noch eine Weile, bis Viola sich traute. Aber mit einem Glas Wein und dem Eröffnungssatz „ich habe Ihre Telefonnummer von Ihrer Tante“, war das Eis dann schnell gebrochen, da beide über die absurde Situation lachen mussten. Seit 2009 sind Viola und Marko ein Paar. 2011 kam ihr Sohn Lenny zur Welt. Der Weg dahin war jedoch alles andere als einfach für Viola.

“Ich bin für eine Weile in ein schwarzes Loch gefallen.“

Lange hatten Viola und ihr Mann vergeblich versucht, Kinder zu bekommen. Nach mehreren tragischen Fehlgeburten, verschiedenen Operationen und schließlich der Diagnose einer Blutgerinnungsstörung, ist Viola gesundheitlich und psychisch sehr angegriffen. Als sie bei einer Zwillingsschwangerschaft bereits ein Kind verloren hat, erblindet sie plötzlich auf dem rechten Auge. In der Notaufnahme einer Klinik erfährt sie, dass sie einen zentralen Nervenverschluss hat und für immer auf dem Auge blind bleiben wird. Kurz darauf verliert sie den zweiten Zwilling und ist verzweifelt. „Das war eine sehr schwere Zeit für mich. Ich bin für eine Weile in ein schwarzes Loch gefallen.“

Als sie dann auch noch Übelkeit und Brustschmerzen als typische Schwangerschaftssymptome bekommt, ist sie sehr beunruhigt. Sie glaubt, ihr Körper spiele ihr etwas vor, weil ihr Kinderwunsch unerfüllt geblieben ist. „Ich dachte, jetzt werde ich verrückt. Dann bin ich irgendwann in eine Apotheke und habe mir fünf Schwangerschaftstests gekauft. Und alle waren positiv! Das heißt, ich war auf ganz natürlichem Wege schwanger geworden und konnte es gar nicht fassen.“

“Die Schwangerschaft war aus heutiger Sicht die größte Herausforderung meines Lebens“.

Aufgrund der Blutgerinnungsstörung und ihrer angegriffenen Gesundheit muss Viola starke Medikamente nehmen – eine natürliche Geburt ist unmöglich. Lenny wird daher von den Ärzten per Kaiserschnitt geholt, während Viola unter Vollnarkose ist. Sie sieht ihr Kind nur ganz kurz nach dem Aufwachen und darf ihn erst mehrere Wochen später aus der Intensivstation mit nachhause nehmen.

Doch ausgerechnet das Kind, das sie sich so sehr gewünscht hat, erscheint ihr nun fremd. Zu stark war die Angst, ihn zu verlieren, zu viel hat sie durchgemacht. Mit psychologischer Unterstützung und der Hilfe ihres Mannes gelingt es ihr jedoch, auch diese schwere Phase zu überwinden.

„Die Schwangerschaft war aus heutiger Sicht die größte Herausforderung meines Lebens“, sagt Viola. „Aber heute bin ich unendlich glücklich, dass mein Sohn Lenny da ist.“

Viola Maczkowiak trifft man im:

Weight Watchers Center Berlin Moabit
Bochumer Str. 21
10555 Berlin