Renate Faltin

Als Heimkind in der DDR lernte Renate Faltin (73) schon sehr früh, dass man im Leben nichts geschenkt bekommt – auch nicht die Liebe ihrer Mutter. Sie ertrug Einsamkeit, starre Regeln, ständige Schulwechsel und kämpfte sich durch ein Abitur voller Zahlen und Formeln. Dann endlich der eigene Weg: Opernsängerin. Über Fünfundzwanzig Jahre lang spielte Renate Faltin auf vielen Bühnen der DDR und begeisterte das Opernpublikum unter anderem in ihrer Glanzrolle als Königin der Nacht in Mozarts Zauberflöte, aber auch in zahlreichen Operetten, Oratorien und Musicals. Ihr Wissen gibt sie als Professorin für Gesang an der Berliner Hanns Eisler Hochschule und als Autorin weiter. Ihr Buch „Singen lernen? Aber logisch!“ wurde bereits zum fünften Mal neu aufgelegt.

Wäre Renate Faltin auch Opernsängerin geworden, wenn sie nicht in einem DDR-Kinderheim aufgewachsen wäre? Eine Frage, die nicht einfach zu beantworten ist, aber doch liegt es nahe. Nach der Geburt von Renate in Parchim, ergriff ihre politisch überzeugte Mutter Anni in den Nachkriegsjahren die Chance, sich im Schnellverfahren als Volksrichterin fortzubilden. Da sie selbst im Internat leben musste, konnte sie ihre unehelich geborene Tochter nicht mit unterbringen – also kam Renate ins Kinderheim, erst in Neuruppin, dann in Potsdam. Eine Zeit voller Einsamkeit, die prägend war. Schon früh musste sie die Entscheidung treffen: untergehen oder aushalten. Sie entschied sich für das „Aushalten“, denn sie musste erst wissen, wer sie ist, um sagen zu können: „Nein, das will ich nicht.“ 

Es gab vieles in ihrer Kindheit, was ihr das Herz überlaufen ließ. Da ist zum Beispiel dieser Tag, an dem sie ihre Mutter vermisst. Sie ist neun Jahre alt und läuft kilometerweit vom Kinderheim zur Mutter ins Potsdamer Zentrum und klingelt. Doch die Mutter weist sie ab. „Sie kam raus, hat mich gesehen und hat gesagt, das ist nicht in Ordnung, du gehst jetzt wieder zurück‘. Dann hat sie die Tür zugemacht.“ Bis heute hat sich dieses Ereignis traumatisch in Renates Gedächtnis eingebrannt und Spuren hinterlassen. Auch das Leben im Kinderheim ist alles andere als glücklich. Renate zählt dort zu den Schwächeren und ist daher einer brutalen Rangordnung durch die älteren Jungen unterworfen. Wie eine Dienerin muss sie für sie die Schulmappen schleppen und Mutproben bestehen. „Ich musste zum Beispiel außen auf einer schmalen Brüstung im Hochparterre zum nächsten Fenster balancieren“. Auch seelische Grausamkeiten sind an der Tagesordnung für das kleine Mädchen, die schockiert zusehen muss, wie die Jungs den Fliegen die Flügel ausreißen und die Tiere langsam torkelnd verenden lassen. „Ich bin eigentlich ein sehr emotionaler Mensch. Weil ich aber im Heim und bei meiner Mutter nicht verletzlich sein durfte, habe ich mir angewöhnt, nach außen hin abweisend zu wirken.“ Und doch gibt es in ihr dieses Bedürfnis, ihre Gefühle mit jemandem zu teilen. Es darf nur niemand sein, der sie kennt. Deshalb sprach sie damals, wenn sie es nicht mehr aushielt, einfach fremde Menschen an. „Ich habe mir Leute in der Straßenbahn gekrallt, um denen mein Herzeleid auszuschütten, weil ich wusste, dass ich die nie wieder sehen würde.“

Renate Faltin klingt nicht verbittert, wenn sie davon erzählt. Ja, es sei sicher traurig aus heutiger Sicht, aber sie habe es damals nicht so empfunden – sie kannte es ja nicht anders. Mit einem kleinen Lachen streicht sie sich durch ihr nach hinten gebundenes, schwarzgrau meliertes Haar und lehnt sich im schwarzen Ledersessel zurück. Ihre dunkelbraunen Augen sind auf die Wand vor ihr gerichtet, während sie sich erinnert. „Dieses Gefühl, mich anderen mitteilen zu wollen, Gefühle zu transportieren und Verbundenheit zu erzeugen, aber ohne erkannt zu werden, habe ich auch als Sängerin später gehabt.“ Während ihre Kollegen nach der Vorstellung Autogramme geben, schleicht sich Renate Faltin nach bejubelten Auftritten als Königin der Nacht lieber unerkannt aus dem Haus. Bühne ist Bühne und privat ist privat. Sie möchte selbst entscheiden, wann und wem sie sich zeigt. 

“Opernsängerin war von da an mein Traumberuf.”

Heute sieht Renate in ihrer schwierigen Kindheit tatsächlich einen Grund, warum sie es geschafft hat, Opernsängerin zu werden. Denn ihr Weg in den Beruf war alles andere als einfach. Dafür musste sie vieles aushalten und oft auch kämpfen – Stärken, die sie als Kind ausbilden musste, um zu überleben. Während der Heim- und Schulzeit konnte sie keine eigenen Ziele verfolgen. Sozialistische Erziehung, Regeln befolgen, lernen, was der Staat vorgibt. „Ich erinnere mich an die Lautsprecherdurchsage in den Fluren, als Stalin 1953 gestorben ist. Da sind unsere Erzieher heulend und schreiend über den Tischen zusammengebrochen.“ Dabei ist für Renate schon mit vierzehn klar, dass ihr Weg ein anderer sein soll. Als sie zum ersten Mal die Oper „La Bohème“ erlebt, weiß sie, dass sie auch auf die Bühne möchte. „Opernsängerin war von da an mein Traumberuf, aber ich habe dann immer behauptet, dass ich Tierarzt werden will,“ sagt Renate Faltin. So erspart sie sich Fragen und geht Diskussionen aus dem Weg. Sie hat schnell gelernt, dass das wohl nicht ins sozialistische Weltbild ihrer Umwelt passen würde.

Renate quält sich durch das für sie vorgegebene naturwissenschaftliche Abitur, obwohl ihre Stärken kreative sind. „Ich konnte super Gedichte aufsagen, schön singen und habe sehr gern Theater gespielt.“ Wenn sie etwas vortragen kann, ist sie glücklich, denn die Momente, in denen sie von anderen bewundert und beachtet wird, sind selten. „Ich hatte ja keine Freunde,“ sagt Renate und lacht kurz auf. Einer der Gründe ist der Beruf ihrer Mutter, die mittlerweile als Richterin arbeitet. „Wir mussten uns von der Schule her einmal eine Gerichtsverhandlung ansehen. Und dann war ausgerechnet ich mit meiner Klasse dabei, als meine eigene Mutter irgend so ein armes Schwein verurteilte, das einen Witz über Walter Ulbricht gemacht hatte.“ 

Mit zehn Jahren kann Renate das Kinderheim verlassen und zu ihrer Mutter ziehen. Diese arbeitet in der Bezirksleitung der SED als Instrukteur für Justiz in Potsdam und hat nun endlich eine eigene Wohnung bekommen. Die Konflikte zwischen Mutter und Tochter spitzen sich zu, denn sie sehen sich nun jeden Tag. „Man sagt ja, die Bindung zu einer Mutter entsteht in den ersten Jahren – aber die hatten wir ja nicht.“

Auf der Suche nach dem unbekannten Vater

Eines der größten Konfliktthemen ist der unbekannte Vater. Ihre ganze Kindheit über wollte Renate wissen, wer er ist und wie ihn die Mutter kennengelernt hat. Doch diese lehnt es kategorisch ab, darüber zu sprechen. Stattdessen wird sie jedes Mal wütend und behauptet lange, der Vater sei im Krieg gefallen, was Renate aber nie glaubt, da sie erst 1946 geboren wurde. In den Augen der Mutter war der Vater „ein schlechter Mensch“, und damit musste sich die Tochter zufrieden geben. Kein Name, keinerlei Informationen. 

Bis Renate in der Schule lernen soll, wie man einen Lebenslauf schreibt. Sie zeigt der Mutter die Aufgabe und fragt, was sie bei „Vater“ eintragen soll. Die Mutter bekommt wieder einmal einen Wutanfall. Diesmal vielleicht, weil sie im Zwiespalt ist. Wenn sie sich weigert, etwas zu sagen, wird der Lebenslauf ihrer Tochter in der Schule eine Lücke aufweisen, doch wenn sie erzählt, dass Renates Vater lange wegen Schmuggels nach dem Krieg gesucht wurde und mittlerweile im Westen lebt, könnte sie ihre Tochter verlieren. Sie ahnt wahrscheinlich, wie sehr sich Renate wünscht, ihren Vater zu treffen. 1959 gibt es noch keine Grenze, die dies verhindert hätte. Die Mutter tobt und schreit, aber nennt dann tatsächlich den Namen und das Geburtsdatum des Vaters. In ihrer Wut gibt sie auch preis, dass er in Schönwalde bei Berlin geboren wurde, verheiratet ist und einen weiteren Sohn hat. Jedes ihrer Worte brennt sich in Renates Gedächtnis ein. „Ich hatte das starke Bedürfnis, endlich meine Wurzeln zu kennen.“ Auf einem kleinen grünen Zettel notiert sie sich jedes Detail, das sie eben erfahren hat und steckt ihn in ihr Portemonnaie. So hat sie ihren Vater Erwin und ihren Halbbruder Harry immer bei sich, auch wenn sie nicht weiß, wo sie sind. 

„Gerade wenn man sich so alleine fühlt und keiner hilft einem, dann hätte man gerne entweder einen großen starken Bruder oder einen Vater, der mal so richtig Bescheid sagt.“ Doch Renate hat gelernt, alles zu vermeiden, was ihre Mutter aufregen oder missfallen könnte, denn sie fürchtet ihre heftigen Reaktionen. „Meine Mutter hat mir immer gedroht, wenn irgendwas war, dass ich sie um den Verstand bringe oder dass sie sich das Leben nehmen würde. Immer wieder.“ Erst nach der Wende, als der Vater bereits gestorben ist, lernt sie durch Nachforschungen ihren Halbbruder Harry kennen. Dass Renate seine Halbschwester ist, wird Harry klar, als sie ihm in einem Brief den Diamantring beschreibt, den ihre Mutter von Harrys Vater damals erhalten hat. „Mein Vater hat doch die Dämlichkeit besessen, sowohl seiner Frau als auch seiner Geliebten den gleichen Ring zu schenken.“ Renate schüttelt den Kopf, aber muss dabei lachen. Denn seine Dummheit hat ihr geholfen, ihren Halbbruder zu finden. Und das war für sie eines der größten Geschenke, das ihr das Leben machen konnte. 

Ein Professor hat mich ‚Miss Mäusehusten‘ genannt.
Doch ihren Lebensweg geht Renate zunächst allein. Direkt nach dem Abitur bewirbt sie sich an der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar – so weit weg von ihrer Mutter wie möglich. Doch sie wird abgelehnt. „Die haben mir gesagt, dass meine Stimme noch zu kindlich ist.“ Schließlich entdeckt sie in einer Tageszeitung einen Zeitungsartikel, dass für eine Klasse an der Hanns Eisler Hochschule in Berlin noch Schüler gesucht werden. Dies ist sehr ungewöhnlich, denn an allen vier Musikhochschulen der DDR sind die Aufnahmeprüfungen bereits abgeschlossen. Renate bewirbt sich und wird tatsächlich genommen, doch sie weiß, dass sie nicht die erste Wahl ist. „Die Musikhochschulen hatten bei Sängern ein Aufnahmesoll, denn 52 Musiktheater mussten mit Künstlern gefüllt werden. Da haben die genommen, was geht.“ Und das lassen die Lehrer sie deutlich spüren. „Ich hatte einen Professor, der hat mich sogar ‚Miss Mäusehusten‘ genannt.“ 

Trotz einer fachlich nicht guten Hauptfachlehrerin und wenig Unterstützung schafft Renate ihr Studium – sie beißt sich durch, erträgt vieles, weil sie ihr Ziel unbedingt erreichen möchte. „Damals war es noch so, dass man nach vier Jahren einen Chorsänger- oder nach fünf Jahren einen solistischen Abschluss machen konnte. Für den Soloabschluss kam ich als ‚Miss Mäusehusten‘ eigentlich nicht in Frage,“ stellt Renate nüchtern fest. Und doch ist es genau das, was sie möchte. Also bewirbt sie sich noch während ihres Studiums an einem sehr kleinen Theater, dem Theater Senftenberg, „eine Klitsche“, wie sie sagt. Dort will man sie nehmen, wenn sie noch ein Jahr studiert und ihren solistischen Abschluss macht. „Ich bin dann an meine Schule und habe gesagt – so. Wenn ihr mich noch ein Jahr hier lasst, dann nehmen die mich. Und dann habe ich tatsächlich nochmal ein Jahr gekriegt.“ 

Heirat, Kind und Karriere

Während des Studiums lernt Renate an der Hochschule ihren späteren Mann Peter kennen, der dort unterrichtet. „Im letzten Jahr haben wir dann bemerkt, dass es doch für länger sein könnte.“ Sehr zurückhaltend erzählt sie von dieser Liebe, die nur sie selbst etwas angeht. Sie wollen heiraten, doch Renate möchte ihren eigenen Namen behalten – ihr Name ist durch verschiedene Auftritte in der Theaterwelt bereits bekannt. Da sie keinen Doppelnamen möchte und es damals in der DDR unmöglich ist, jeweils den eigenen Namen zu behalten, heiraten sie schließlich in Ungarn. „Das hatte ganz böse Folgen,“ sagt Renate. „Jedesmal, wenn wir im Hotel unsere Ausweise vorlegten, hat die Rezeptionistin einen roten Kopf gekriegt und ihre Vorgesetzte geholt.“ Renate imitiert amüsiert den damaligen Dialog: „Herr Kroll, Sie sind verheiratet? Jaaa! Und Frau Faltin, sind Sie verheiratet? Jaaaaa! Aber nicht mit dem Mann? Dooch!“ Für zukünftige Reisen besorgen sie sich schließlich eine staatlich beglaubigte und übersetzte Eheurkunde, um im selben Zimmer übernachten zu können. 

1970, als Renate 24 Jahre alt ist, wird ihr Sohn Sebastian geboren. Zwei schlecht bezahlte und anstrengende Jahre am Theater Senftenberg und eine Zeit der freiberuflichen Tätigkeit liegen hinter ihr. Sie beginnt am Operettentheater in Dresden zu arbeiten und sie und ihr Mann pendeln abwechselnd mit dem Sohn zwischen den Städten hin und her. „Mit dem Trabant auf den schlechten Straßen hat das schon ein bisschen gedauert.“ 

Glanzrolle: Die Königin der Nacht

Ihre erste Rolle war das Hannchen in der Operette „Der Vetter aus Dingsda“. „Diese Rolle hat mich dann ewig verfolgt,“ sagt Renate Faltin und kichert, während sie in ihrem Ordner blättert, in dem sie alle Stationen ihrer Karriere abgeheftet hat. Als sie 1981 ihre Tochter Susanna bekommt, ist sie bereits gefragte Koloratur-Sopranistin für die schwierige Rolle der Königin der Nacht in Mozarts Zauberflöte. 1977 trat sie zum ersten Mal im Theater Rostock in dieser Rolle auf und wird seitdem immer wieder von verschiedenen Opernhäusern der DDR engagiert. Herausfordernd sind die beiden Arien, bei denen die Stimme besonders in den hohen Tonlagen sehr beweglich sein muss. „Wenn da eine Note falsch ist, hört das jeder Dussel,“ sagt Renate Faltin und fügt hinzu: „Und weil ich sehr, sehr sicher in dieser Höhe war, wurde ich häufig von heute auf morgen als Ersatz angefragt.“

Auf einem Foto im Ordner sieht man Renate in der Rolle der Königin der Nacht. Riesige, dunkle Augen unter einer eng anliegenden Kappe blicken direkt in die Kamera. Ein langer schlanker Hals schwebt über dem dunklen Kostüm mit dem bestickten Stehkragen. Der Blick hält den Betrachter gefangen, er strahlt Trauer und doch gleichzeitig Entschlossenheit und Kraft aus. Es ist nicht die Königin, die man auf dem Bild sieht. Es ist Renate Faltin selbst, die sich sich hier – unter dem Schutz der Rolle – hervorwagt, sich zeigt.

Ich hatte immer schwierige Fälle, denen ich helfen musste.
Neben der Leidenschaft für das Singen hatte Renate schon früh entdeckt, dass sie sich auch sehr für die Technik dahinter interessiert. „Ich musste mich ja im Studium mit mir selber beschäftigen, weil ich es nicht gut konnte und der Unterricht sehr schlecht war.“ 

Renate Faltin beginnt 1971 neben ihrem Engagement am Theater Senftenberg an ihrem spielfreien Tag zunächst Kinder und Jugendliche an einer Musikschule in Berlin-Treptow zu unterrichten. Ihr Unterricht ist beliebt und ihr macht es großen Spaß, ihr Wissen weiterzugeben. 1977 folgt eine zweijährige pädagogische Aspirantur an der Hanns Eisler Hochschule, bei der sie nun Studenten unterrichtet, aber parallel von einer Mentorin unterstützt wird. „Das war die beste Lehrerin an der Hochschule“, sagt Renate Faltin heute. 1979 setzt sie ihre pädagogische Karriere als „Oberassistent für Gesang“ an der Hochschule fort und arbeitet nun mit eigenen Hauptfachklassen für Chor- und Sologesang. „Ich hatte immer schwierige Fälle, um die ich mich kümmern musste. Das hat mich gefordert, denn ich musste überlegen, wie ich ihnen helfen konnte.“ 

Den Auftritt überleben

Renate sieht und hört genau hin, wenn ihre Studenten singen. Oft haben sie sich über die Jahre falsche „Einstellungen“ angewöhnt, die sie nun gemeinsam mit ihnen korrigiert. „Die erste Regel für den Sänger ist es den gesamten Auftritt zu überleben. Es könnte ja noch eine Arie kommen,“ sagt Renate Faltin und lacht. Sie weiß genau, wie Gaumensegel, Lippen und Zunge bewegt werden müssen, um die Töne richtig und dabei ohne Kraftaufwand zu erzeugen. Das ist wichtig, damit die Sänger auch lange Musikstücke problemlos bewältigen können. „Was mir damals sehr geholfen hat, war meine Arbeit für die ‚Berliner Gesangswissenschaftlichen Tagungen’ der Charité“, fährt sie fort. „Ich war der Vertreter für die Hochschule und leitete gemeinsam mit Prof. Dr. Seidner von der Charité die Veranstaltungen.“ Auf der Tagung trafen sich Fachärzte (Phoniater), Gesangspädagogen und Sänger aus dem ganzen Land und tauschten sich über Klangerzeugung und die aktuellsten Erkenntnisse zur Funktionsweise der Stimme aus. Renate profitiert von diesen fachübergreifenden Erfahrungen und hält auch selbst Vorträge, leitet Veranstaltungen und stellt Methoden aus ihrem Unterricht vor. Nur mit der Unterstützung ihres Mannes schafft sie es, ihre Familie, die Gesangskarriere und den Unterricht unter einen Hut zu bekommen. „Meine Mutter konnte ich dabei ja vergessen,“ fügt Renate hinzu. Sie blickt geradeaus, keine Mimik verrät, welches Gefühl sie damit verbindet.

Besonders ihre Tochter Susanna braucht viel Aufmerksamkeit, denn sie ist Asperger-Autistin, was jedoch damals nicht erkannt wird. In der Schule ist sie oft blockiert vor Angst, will nicht sprechen, doch die Lehrer deuten dies als Verweigerungshaltung, was zu Problemen führt. Den Schulstoff muss Renate zuhause mit ihr mit ganz individuellen Methoden erarbeiten, da sie in der Schule nicht folgen kann. Wie bei ihren Schülern und Studenten auch, versetzt sie sich jetzt in die Lage ihrer Tochter und gibt nicht auf, bis sie die richtige Methode gefunden hat. „Ich musste mir immer etwas ausdenken, damit sie verstand, was gemeint war. Zum Beispiel Multiplikation anhand von Tassen und Murmeln.“ 

Karriere an der Hochschule

Während sich Renate in den achtziger Jahren zur gefragten Opernsängerin und Gesangspädagogin entwickelt, findet in der DDR ein dramatischer künstlerischer Aderlass statt. Seit der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann 1976 haben über 350 Schauspieler, Regisseure, Schriftsteller und bildende Künstler in den 1980er Jahren die DDR verlassen. Wer Kritik übt, erhält Auftrittsverbot oder wird politisch verfolgt. 

„Für meine Mutter hatte die Partei immer Recht, denn der Sieg des Sozialismus stand über allem. Mir lag das aber nicht.“ Renate ist nicht in der Partei – sehr zum Bedauern ihrer Mutter. „Zunächst bin ich nicht in die Partei gegangen, weil ich mich nicht gut genug fühlte, selbstredend. Ich war ja nur ein blöder Student. Dann irgendwann stellte ich fest, hier stimmt was nicht und dann hätten mich auch keine zehn Pferde mehr reinbekommen.“ Diese Weigerung ist immer wieder Anlass für Streite mit der Mutter, die sogar Renates Mann dafür Vorwürfe macht, dass er es nicht schafft, sie umzustimmen. 

Nach sieben Jahren als Oberassistent wird Renate Faltin 1986 vom damaligen Rektor Prof. Olaf Koch der Hanns Eisler Hochschule für eine Dozentur vorgeschlagen – eine deutliche Verbesserung gegenüber ihrer aktuellen Position: „Als Dozent musstest du weniger arbeiten als die Oberassistenten und hattest endlich auch eine Altersversicherung.“ In der DDR war es nicht möglich, sich für eine derartige Position zu bewerben. Stattdessen hing alles davon ab, dass ein Vorgesetzter die Berufung als Dozent am eigenen Institut vorschlug. Die formale Ernennung erfolgte dann in einem öffentlichen Festakt über das Ministerium für Kultur. 

Ich sehe ihn noch vor mir, wie er mit dem Kaderentwicklungsplan wedelt.
Doch im selben Jahr wird Prof. Ragwitz neuer Rektor der Hanns Eisler Hochschule, und entscheidet im Alleingang, dass diese Dozentur als eine „außerordentliche“ zu verstehen sei. Dies hätte bedeutet, dass Renate Faltin nur den Titel „Dozent“ erhalten hätte ohne die damit verbundenen Leistungen. Erst zwei Tage vor der geplanten Berufung soll ihr dies der Abteilungsleiter schonend beibringen. Doch Renate hat bereits über ihre Kollegen davon erfahren. Im Gespräch lässt sie ihn sehr direkt wissen: „Lass stecken, das haben mir schon welche erzählt.“ Daraufhin wird sie zum Rektor zitiert, der verlangt, dass sie Namen nennt. „Ich sehe den heute noch vor mir, wie er mit dem Kaderentwicklungsplan wedelt.“ Er macht ihr klar, dass ihre weitere Karriere nun davon abhänge, ob sie die „undichte Stelle“ verrate. Sie weigert sich, will eine Beförderung aufgrund ihrer Leistungen, nicht aufgrund einer Denunziation.
Ich arbeite wie ein Dozent, ich berufe mich auf die Verfassung.
Renate Faltin wendet sich an die Konfliktkommission der Hochschule, weil sie eine gerechte Vergütung für die tatsächlich geleistete Arbeit und Lohnnachzahlungen fordert. Sie ist fest überzeugt, dass sie für ihr Recht kämpfen kann. „Ich habe gesagt, ich arbeite wie ein Dozent, ich berufe mich auf die Verfassung, ich möchte gleiches Geld für gleiche Arbeit.“ Im Oktober 1987 wird eine Konfliktverhandlung angesetzt, doch da der Rektor nicht erscheint, findet die Verhandlung nicht statt. 

Doch Renate glaubt immer noch, dass sie auf Basis der DDR-Verfassung erfolgreich klagen kann und wendet sich an einen Juristen. „Der hat mir dann ganz deutlich gesagt, ich könne zwar klagen, aber dass ich am Schluss kein Recht kriegen würde.“ Erst da wird ihr klar, dass es naiv und blauäuig war, den Staat herauszufordern. Hinzu kommt, dass ihr der Rektor in einem Kadergespräch nahelegt, ihren Antrag an die Konfliktkommission zurückzuziehen, da es sonst „keine Klarheit über ihre weitere Tätigkeit und Entwicklung gäbe“, wie es im Gesprächsprotokoll heißt. Diese nur schwach verschleierte Nötigung bringt ihre sozialistische Überzeugung vollkommen ins Wanken.

Renate Faltin wird schließlich weder zur Dozentin berufen, noch wird ihrem Antrag für eine gerechte Bezahlung für sich und weitere betroffene Mitarbeiter stattgegeben. Ihre Arbeitssituation an der Hanns Eisler Hochschule wird immer schwieriger, Kollegen beginnen, sie zu schneiden und setzen sich in Versammlungen nicht mehr zu ihr.

Doch die Studenten schätzen sie sehr. Immer wieder wechseln sie bewusst zu ihr, weil sie unzufrieden mit anderen Lehrern sind. Es spricht sich herum, dass man bei ihr mit Problemen nicht allein gelassen wird. Wenn Fragen entstehen, forscht Renate so lange, bis sie ihren Studenten eine fundierte Antwort geben kann. Manchmal stellt sie sich so lange vor einen Spiegel und probiert Zungen-, Gaumen-, Mundstellungen aus, bis sie herausgefunden hat, was ihr Student falsch macht. 

DDR im Umbruch

Renate Faltin ist keine Systemkritikerin. Doch sie kann nicht alles einfach hinnehmen – trotz der sozialistischen Erziehung in den SED-Kinderheimen und ihrer linientreuen Mutter. Ihre Erfahrung mit der Berufung lässt sie immer weiter zweifeln. Im Oktober 1988 beschließt die DDR-Regierung, das sowjetische Magazin „Sputnik“ nicht auszuliefern. Es hatte über den von der SED verleugneten deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt berichtet. Renate Faltin ist als Abonnentin verärgert über diese Gängelung. Sie nimmt ein altes Titelblatt des Magazins, gestaltet es als Traueranzeige um mit schwarzem Rand, Kreuz und dem „Todesdatum“ Oktober 1988 und hängt es an die Wand der Hochschulmensa. „Zum Glück bin ich nicht erwischt worden,“ sagt Renate nachdenklich.

Außerhalb der Hochschule herrscht Unruhe in der DDR. Die Glasnost-und Perestroika-Bewegung in der Sowjetunion lässt viele Bürger hoffen, dass auch das DDR-Regime sich offen für Veränderungen zeigt. Immer deutlicher fordern sie Reformen ein. Doch die DDR-Regierung sieht keinen Anlass für Selbstkritik und geht mit aller Macht gegen ihre Kritiker vor. 

Im Januar 1989 gelingt es 500 Menschen, auf dem Leipziger Marktplatz für das Recht auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie Pressefreiheit zu demonstrieren. Über 50 Demonstranten werden verhaftet, aber nach Solidaritätsaktionen in vielen DDR-Städten nach wenigen Tagen Haft wieder freigelassen. Es formieren sich die Leipziger Montagsdemonstrationen, bei denen im Herbst erstmals 1200 Menschen durch die Innenstadt ziehen. Renate Faltin erlebt dies hautnah, denn sie hat zu dieser Zeit ein Engagement am Leipziger Opernhaus für die Zauberflöte und pendelt für die Proben zwischen beiden Städten hin und her. 

Der Anfang vom Ende der DDR

Die politische Unruhe ist auch auf die Musikhochschule übergesprungen, wo über die Zukunft der DDR diskutiert wird und die alten Abteilungsleiter von den Studenten und einigen Lehrern nicht mehr akzeptiert werden. Nachdem die Polizei am 7. Oktober, dem 40. Jahrestages der DDR, Demonstranten mit brutaler Gewalt niederknüppelt, verhaftet und misshandelt, ist Renate Faltin sehr betroffen. Sie folgt  der Initiative von Berliner Schauspielern und Künstlern und nimmt am 28. Oktober 1989 – zehn Tage nach Honeckers Rücktritt, an der Lesung von Ulrich Mühe im Deutschen Theater teil. Mühe liest aus Walter Jankas Memoiren „Schwierigkeiten mit der Wahrheit“, die zu diesem Zeitpunkt nur im Westen erschienen sind. Janka rechnet in seinem Buch ab mit politischer Heuchelei, Polizeistaatlichkeit, Rechtsbeugung und Menschenverachtung. Die Schlange vor dem Theater reicht bis zur Friedrichstraße, die Lesung wird mit Lautsprechern auf die Straße übertragen, einige Menschen weinen.

Am 4. November findet auf dem Alexanderplatz die erste genehmigte nichtstaatliche Demonstration der DDR mit über 500.000 Teilnehmern und bekannten Rednern wie Stefan Heym, Gregor Gysi, Christa Wolf oder auch Heiner Müller statt. Auch Renate ist dabei: „Viele wünschten sich – wie ich – eine bessere DDR, ohne sie ganz abschaffen zu wollen. Aber dann habe ich einige schwarz-rot-goldenen Fahnen ohne DDR-Emblem gesehen und wusste plötzlich: die DDR wird es nicht mehr geben, die Menschen wollten einfach ein besseres Leben.“ Am 9. November fällt die Mauer und die DDR, wie sie einmal war, beginnt sich aufzulösen.  

Trauer und Überleben

Doch im November 1989 stirbt Renates Mann an einem Herzinfarkt. Das lässt alles andere plötzlich unwichtig werden. Trotz des Schocks und der Trauer muss Renate irgendwie funktionieren: Susanna, ihre Bühnenauftritte, die Gesangsklasse und Behördengänge. Kurz vor Weihnachten muss sie aufs Amt gehen, um ihren Mann persönlich abzumelden und seinen Personalausweis abzugeben. Renate nimmt alles wie unter einem Schleier wahr, alles wirkt auf sie unwirklich. „Ich musste zuhören, wie die Frauen sich am Telefon über Weihnachtsgeschenke austauschten, und sollte gleich sagen ‚guten Tag, mein Mann ist gestorben.“ Die Art wie sie erzählt, lässt nur ahnen, wieviel Kraft es sie gekostet haben muss, diese Zeit zu überstehen. Sie verbirgt ihr Gefühl hinter einer Szenenbeschreibung, lässt nur den Zuschauerblick zu. Diese Distanz ist es, mit der sie andere Menschen täuscht und glauben lässt, sie sei nicht emotional und somit auch nicht verletzlich. Ihre Gefühle gibt sie Fremden nicht gern preis, das hat sie verinnerlicht, denn es hat ihr geholfen, ihre lieblose Kindheit zu überleben. Ihre Stärke schöpft sie auch aus dieser Zeit. Nur so hat sie ihre Tochter versorgt, ist aufgetreten, hat unterrichtet, ist mit dem Alleinsein klargekommen und hat sich ein neues Leben in einem für sie neuen Land aufgebaut. 

1990, unter einer neuen Rektorin, erhält Renate Faltin endlich die ursprünglich versprochene Dozentenstelle – rückwirkend ab Februar und bis zum offiziellen Ende der DDR. Es ist eine Art Aufarbeitung durch die Hochschule für Musik, von der auch Studenten profitieren, die damals aus politischen Gründen ihr Examen nicht machen durften. Kurz darauf stellt Renate Strafanzeige gegen den damaligen Rektor Prof. Ragwitz, dessen Machtmissbrauch und Nötigung sie dokumentiert wissen möchte. Ein Untersuchungsausschuss gibt ihr 1991 in allen Punkten recht. 

Abschied von der Oper

Im Sommer 1990 steht sie zum letzten Mal im Goethetheater Bad Lauchstädt bei einer Inszenierung des Theater Halle als Königin der Nacht auf der Bühne. „Ich war besonders gut an diesem Abend, wollte mir selbst einen würdevollen Abschied geben, denn niemand außer mir wusste davon.“ Sie hat diesen Entschluss bewusst gefasst, weil sie sich mehr um ihre Tochter kümmern möchte, die damals gerade elf Jahre alt ist. Hinzu kommt, dass sehr viele Theater neue, meist westliche, Intendanten haben. „Ich hätte da vorsingen müssen wie ein Anfänger – guten Tag, ich bin die Neue, ich komm jetzt öfter – neee. Also das war gegen meine Ehre.“ 

Nach der Wende werden die alten Hochschulstrukturen und somit die Stellen neu organisiert. Doch von ihrem Arbeitsplatz bei der Hochschule hängt ab, ob Renate ihre Tochter allein versorgen und ihr Haus weiter finanzieren kann. Dafür muss sie eine letzte berufliche Hürde nehmen und sich erneut bewerben, obwohl sie seit Jahrzehnten an der Hochschule beschäftigt ist. Als sie die ausgeschriebene Professorenstelle bekommt, ist sie sehr erleichtert. Endlich ist sie mit ihrer Tochter sozial abgesichert. 

Ich sehe mit dem Ohr.
Renate Faltin hat mittlerweile hunderte von Schülern in der ganzen Welt ausgebildet und gibt auch seit ihrer Emeritierung am 1. April 2011 weiter Unterricht als Professorin für Gesang an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin. Viele ihrer Schüler und Studenten haben Karriere gemacht oder sind gerade dabei. So z. B. Annika Schlicht, Mezzosopranistin an der Deutschen Oper Berlin, Fatma Said, Sopranistin mit Engagements an der Mailänder Scala oder auch der Countertenor Jörg Waschinski. Doch besonders stolz ist sie auf die, die gar nicht so bekannt sind, die nach jahrelangem Studium kurz davor waren, aufzugeben und es mit ihrer Hilfe dann doch geschafft haben. „Es gibt so viel Scharlatanerie in diesem Beruf. Die Vorgaben, um Gesangslehrer zu werden sind ‚international bekannt‘, ‚Lehrerfahrung haben‘ und ‚vorsingen‘. Und dann passiert es häufig, dass Professuren nach Popularität der Person vergeben werden. Nach meiner Auffassung sind das aber zwei verschiedene Paar Schuhe.“ Nur wenige Gesangslehrer seien in der Lage, Studenten so zu unterrichten, dass sie bewusst ihre Klangräume einstellen können. „Dabei gibt ja nur wenige, die die Klappe aufmachen und alles funktioniert, weil die Natur das so gemacht hat.“ Bei ihren Schülern achtet sie auf viele Details. „Ich sehe mit dem Ohr. Ich höre, was sie anatomisch tun, welche Fehler sie dabei machen.“ 

Renate liegt viel an ihren Schülern. Auch nach Jahren hält sie den Kontakt zu ihnen. Jedes Jahr veranstaltet sie eine Gartenparty in ihrem Haus in Berlin-Niederschönhausen – eine „Fête“ wie sie es nennt. „Es ist immer unterschiedlich, wer kommt, denn am Theater hast du ja nur zwei wirklich gesicherte Feiertage – Heiligabend und den ersten Mai.“ Es wird viel gesungen und die Ehemaligen tauschen ihre Erfahrungen über die unterschiedlichen Theater mit den aktuellen Schülern von Renate aus. „Das lieben alle immer sehr.“

Die meisten sind voller Selbstzweifel.
Ihre vielfältigen Erfahrungen mit Studenten zum Gesangsunterricht hat Renate Faltin in einem Buch aufgeschrieben. „Ich habe mir manchmal an den Kopf gefasst, wie schlecht manche gesungen haben, obwohl sie schon fünf Jahre Unterricht hatten.“ Im Jahr 2000 erschien die erste Ausgabe von „Singen lernen? Aber logisch! Von der Technik des klassischen Gesangs“. Mittlerweile gibt es das Buch bereits in der 5. Auflage. Es ist zu einer Art Standardwerk geworden. Mit leicht verständlicher Sprache und ungewöhnlichen Fotos von Mundinnenräumen erklärt sie, was nötig ist, um die Töne zum Klingen zu bringen. Für Renate Faltin ist das die Grundvoraussetzung, um auch mit Stimmproblemen besser umzugehen. Wer genau weiß, was er anatomisch tun muss, um einen Ton zu erzeugen, wird seine eigenen Fehler analysieren und gezielt korrigieren können, statt in eine Stimmkrise zu geraten. Denn Singen hat viel mit Psyche zu tun, davon ist Renate Faltin überzeugt. „Das Bild vom überkandidelten Sänger, der mit einem weißen Schal abgehoben durch die Gegend rennt, stimmt nicht, die meisten sind voller Selbstzweifel.“ Renate möchte allen die richtigen Instrumente an die Hand geben, um ihren Weg zu gehen.

Doch das allein reicht nicht. „Ein Sänger muss das innere Bedürfnis haben, seine Seele auf diese Art und Weise zu zeigen. Ich selbst bin nur der Verkehrspolizist – ich kann sagen, hier nicht und jetzt so und jetzt abbiegen, aber fahren muss jeder allein.“

Renate Faltin trifft man an der:

Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin
Charlottenstraße 55
10117 Berlin

Web: www.hfm-berlin.de

Renate Faltin kann man hier singen hören:

 

Die Fée Urgèle - Johann Abraham Peter Schulz

von Renate Faltin

Petrus Akkordeon

Der Berliner Künstler Petrus Akkordeon verbrannte früher Bücher und warf Farbeimer aus Unifenstern. Heute pflanzt er Blumen auf unwirtlichen Verkehrsinseln und liest Gedichte unter Autobahnbrücken vor. In einer einjährigen Kunstaktion versucht er zum Hirsch zu werden und irritiert damit Schamanen, Jäger und Juristen.

Petrus Akkordeon steht mit einer Axt im Souterrain einer alten Villa in Berlin-Lichterfelde. Der Kontrast könnte nicht stärker sein: Oben das hochherrschaftliche Haus mit Fresken am Eingang, hohen Fenstern und einer weiß leuchtenden Fassade und unten die niedrigen Räume von Petrus. Seit seiner Geburt hat er hier gelebt – als jüngstes Kind seiner Eltern mit Bruder Roland und seinen Schwestern Pia und Daniela. Seine Freundin Tanja gesellte sich nach der Schulzeit ebenfalls dazu. Diese Zeit endet heute. Denn heute ist der Tag, an dem Petrus sein Atelier zerhackt. Die Räume, in denen der 46-Jährige sein ganzes Leben verbracht, gezeichnet, illustriert und gedichtet hat, wird er heute verlassen. Er hat letzte Weihnachten die Kündigung bekommen – die Frist ist nun abgelaufen. Die Villa wird saniert und umgebaut – der über 100jährige Garten muss einem Neubau weichen.

„Ich habe 30 Jahre lang als Butler und Gärtner für Margret, die alte Dame oben, gearbeitet“, sagt Akkordeon und zeigt mit dem Finger an die Decke. Ihr fühlte sich Petrus sein Leben lang menschlich sehr verbunden, und sie behandelte ihn wie ein Familienmitglied. Doch letzten September fand Petrus die 86-Jährige sterbend in ihrem Zimmer auf dem Boden. „Nun braucht sie mich nicht mehr“, sagt Petrus leise. „Ich hatte Margret versprochen, dass ich mich bis zu ihrem Tod um sie kümmere.“ Mit Margret hat er nicht nur einen sehr nahestehenden Menschen verloren, sondern gleichzeitig seine Wohnung und seine Arbeit.

“Meine Kindheit war so Scheiße, dass mir die jetzige Situation leicht fällt”.

Sein Atelier, in dem er in gefährlich schwankenden Stapeln seine Kunst aufbewahrt hatte, ist nur noch ein Trümmerhaufen. Über tausend Bilder hat er nicht unterstellen können, als er aufgrund der Räumungsfrist ausziehen musste. Sie wurden nun zerstört. Für jemanden, der kein einziges seiner Kunstwerke je weggeworfen hat, ist dies eine harte Probe. Da Petrus gerade eine dreijährige Ausbildung zum Altenpfleger begonnen hat, blieb ihm einfach keine Zeit, alles auszuräumen. „Ich stehe morgens um halb fünf auf, fahre zur Arbeit, arbeite acht Stunden oder mache Doppelschichten und habe auch noch ein Pferd, um das ich mich kümmern muss.“ Doch Petrus findet trotz allem, dass er es besser als andere hat: „Meine Kindheit war so Scheiße, dass mir die jetzige Situation leicht fällt, weil ich ja trainiert bin.“

Wenn Akkordeon von seinem Leben erzählt, hat man Mühe ihm zu folgen. Zu viel scheint passiert, um es lange zu erklären. Jeder seiner knapp formulierten Sätze erzeugt Erstaunen und weckt Zweifel. Sein Vater ein Fremdenlegionär, die eine Schwester Sängerin, die andere fast taub, sein Bruder ein Tattookünstler, seine Oma psychotisch, die Mutter dement, er selbst Veganer, Butler, Künstler, Guerilla-Gärtner und nun angehender examinierter Altenpfleger. Für Akkordeon ist das Anderssein das Normale.

“Entweder werde ich Künstler oder ich bringe mich um”.

Akkordeon lebt schon als Kind in seiner eigenen Welt der Kunst. Das reale Familienleben hingegen wird vom Vater beherrscht. Der alkoholkranke französische Ex-Fremdenlegionär kehrt traumatisiert aus dem Algerienkrieg zurück und kommt als Alliierter nach Berlin. Als ein Freund in seinem Beisein von einer gerissenen Panzerkette enthauptet wird, verlässt er die Armee. Er ist mehrfach traumatisiert, psychisch krank und nun sogar obdachlos. Auf einer Bank vor einer Kirche in Berlin-Steglitz trifft er Petrus’ Mutter, die ihn später heiratet. Zukünftig wird die ganze Familie unter ihm leiden, da er täglich seine Kriegstraumata neu durchlebt.

Abgehackte Köpfe und verbrannte Menschen

„Er hat uns von abgehackten Köpfen und Menschen erzählt, die die Soldaten mit Flammenwerfern verbrannt haben, weil sie ihnen kein Wasser geben wollten. Ich habe mir das als Kind jeden Abend anhören müssen“, sagt Petrus. „Immer wieder hat er auch gedroht, uns umzubringen.“

Doch die Mutter wagt nicht, den Mann zu verlassen, da sie fürchtet, er würde seine Morddrohungen dann wahr machen. Akkordeon lernt, Wut und Trauer nicht zu zeigen, um den Vater nicht zu provozieren. Er malt und zeichnet stattdessen exzessiv und schläft teilweise nur drei Stunden am Tag. Solange er malt, ist er Künstler, kann selbst entscheiden, was er tut. Seine Werke signiert er je nach Stimmung mit wechselnden Namen und absurden Jahreszahlen – hier hat er die Kontrolle, nicht der Vater.

In der Pubertät schlägt Angst in Hass um, Akkordeon will sich physisch wehren. „Ich habe mir eine Axt gekauft und sie ständig am Gürtel getragen.“ Er trainiert sogar für den möglichen Kampf und entschließt sich dann doch aus Vernunft dagegen. „Ich folge meinen Gedanken immer bis ins Extremste, weil ich das spannend finde. Aber dann setze ich sie nicht in die Tat um.“ Als sein Vater von ihm verlangt, eine Lehre zu beginnen, revoltiert er und droht in einer Sprache, die der Vater versteht: „Entweder werde ich Künstler oder ich bringe mich um.“ Diesen Kampf gewinnt Akkordeon, der zu diesem Zeitpunkt noch Jean-Pierre Batailde heißt.

Er beschließt, Petrus Akkordeon zu sein

Mit 18 trennt sich Akkordeon von dem verhassten Namen des Vaters und beschließt, Petrus Akkordeon zu sein. „Ich habe mir einfach eine neue Biografie erbaut, die mir gefallen hat.“ Die Entscheidung fällt, während er im Schulunterricht den Film „Panzerkreuzer Potemkin“ sieht und dabei einen Akkordeon spielenden Matrosen zeichnet. Wie so oft bei ihm, klingt auch diese Geschichte frei erfunden, aber das Bild mit dem Matrosen gibt es tatsächlich. Er hat es in Großbuchstaben mit Akkordeon signiert. „Ein Sammlerstück für meinen späteren Weltruhm“, wie er augenzwinkernd sagt.

Druck von Petrus AkkordeonAkkordeon fällt bereits in seiner Schulzeit mit ungewöhnlichen Aktionen auf. Ihn fasziniert, wie man Sichtweisen und dadurch die Realität verändert. Als 1990 sein Vater stirbt, will Akkordeon den Tod besser verstehen. Er bringt an einem Freitag einen großen Rinderknochen in die Schule und legt ihn in eine Glasvitrine der Kunst-AG in die Sonne. Die Vitrine schließt er ab. Am Montag zieht Verwesungsgeruch durch die Schule und die Lehrer sind empört. Akkordeon weigert sich eine Woche lang, die Vitrine wieder aufzuschließen. Er will unbedingt etwas sichtbar machen, was man sonst nicht sehen würde und nimmt dafür jeden Ärger in Kauf.

Alltägliches in Kunst verwandeln

Dieser Ansatz zieht sich bis heute durch viele seine Aktionen, die mittlerweile jedoch deutlich weniger provokant sind. Heute will er vor allem Alltägliches in Kunst verwandeln, den Alltag „poetisieren“. Er bietet dazu Spaziergänge in der Natur an, bei denen die Teilnehmer Gedichte verfassen sollen, um sie den Bäumen vorzulesen. Oder er liest wie beim Internationalen Literaturfestival „Radaugedichte“ unter einer Autobahnbrücke vor, die keiner versteht, weil der Verkehrslärm darüber brüllt. Akkordeon erzeugt durch seine absurden Aktionen einen neuen Blick auf Orte, an denen man sonst unachtsam vorbei gehen würde. Den kommerziellen Erfolg sucht er damit nicht, denn für ihn ist die Kunst selbst das Wichtige.

“Wenn ich etwas behaupte, dann ist es eben da”.

Doch Erfolg stellt sich manchmal unerwartet ein. Als er beginnt, zu spontanen Pflanzaktionen auf hässlichen Berliner Verkehrsinseln und anderen öffentlichen Orten aufzurufen, interessieren sich die Medien plötzlich für ihn. Denn „Guerilla-Gardening“ ist gerade en vogue und klingt gefährlich. Akkordeon erhält Anfragen aus der ganzen Welt, wird gefilmt mit Spitzhacke und Spaten am Potsdamer Platz oder am Reichstag und erntet Geraune, wenn er den Journalisten mit hochgezogenen Augenbrauen von den „hohen Strafen für illegales Pflanzen“ erzählt. Akkordeon spielt gern mit den Erwartungen der Journalisten und führt sie damit gleichzeitig in die Irre. Niemand kann bei ihm sicher sein, dass er nicht unvermittelt selbst zum Kunstobjekt wird. Auch sein „Journalistengarten“ ist so entstanden. Als er merkt, dass Reporter immer wieder fragen, ob er ihnen eine verbotene Aktion an einem interessanten Ort zeigen könne, führt er sie an den unspektakulären Teltowkanal im abgeschiedenen Südberlin. Er lässt sie am Kanal selbst zur Schaufel greifen. Indem sie graben, säen, filmen und fotografieren, schaffen sie sich ihre Aktion selbst und merken es gar nicht. Akkordeon ist sich sicher: „Wenn ich etwas behaupte, dann ist es eben da“.

Denk dir einen Würfel – und denke ihn wieder weg

Ursprünglich wollte Akkordeon freie Künste an der Hochschule der Künste (HdK, heute UdK) in Berlin studieren, wurde jedoch abgelehnt. 1992 erhält er einen Studienplatz für Kunstlehrer und trifft in seinem Studiengang auf Professoren, die eher die Techniken der Kunst vermitteln wollen. Sie legen den Kunstbegriff sehr eng aus. Für Akkordeon kann jedoch Kunst durchaus etwas sein, das nur in der Vorstellung existiert. Seiner Dozentin Britta Clausnitzer präsentiert er in einem Seminar ein Kunstwerk in Form eines reinen Textes: „denk dir einen würfel mit der kantenlänge von einem meter, er schwebt in deiner augenhöhe in einem abstand von einem meter und dreht sich sehr langsam im uhrzeigersinn um seine eigene achse. komme in 24 stunden wieder hier her und denke ihn weg.“

Die Malerin Clausnitzer sieht darin Kunst, die jeden Betrachter verführe, die Welt durch eigene gedankliche Assoziationen neu zu schaffen und zu poetisieren. Doch nicht alle sehen dies so. Einige Professoren lehnen es strikt ab, Akkordeons Kunst anzuerkennen. Doch trotz aller Anfeindungen ist Akkordeon absolut überzeugt von seiner Arbeit. „Petrus fand es grundsätzlich unter seiner Würde, seine Kunst zu erklären“, sagt Clausnitzer und lacht. „Er empfand es eher als Affront, dass Kunstprofessoren ihr eigenes Fach nicht verstanden.“

F. W. Bernstein: “Ich bin immer noch ein großer Bewunderer von ihm”.

F.W. Bernstein

F.W. Bernstein signiert „Zack die Ente“

Akkordeon polarisiert. Mit wildem Bart, langen Haaren, einer weiten weißen Hose mit Farbflecken und einer Axt am Gürtel stößt er in dieser Zeit häufig auf Ablehnung. Zudem wirken viele von Akkordeons Aktionen provokativ. So wirft er beispielsweise Farbeimer aus dem Fenster des ersten Stocks in den Hof der Universität. Oder er zündet vor den Augen der entsetzten Professoren im Lehrerseminar Bücher an, weil er eine Diskussion über das Bücherverbrennen anstoßen will. Der bekannte Titanic-Karikaturist F.W. Bernstein, der Akkordeon an der Uni unterrichtet, beschreibt ihn als einen „unglaublich produktiven und dabei kompromisslosen Künstler“, der jedoch nicht aktiv die Provokation suchte. „Akkordeon machte Kunst einfach so, wie er sie für richtig hielt und nahm dabei keinerlei Rücksicht auf mögliche Konsequenzen. Ich bin immer noch ein großer Bewunderer von ihm.“

1999 gründet Akkordeon gemeinsam mit Freunden an der HdK den „Kunstkampfverlag“, der den „antikommerziellen Weltruhm“ zum Ziel hat. Gemeinsam mit seinem Künstlerfreund Georg Kakelbeck produziert er jede Woche ein Heft mit eigenen Zeichnungen und Lyrik, das sie auf Schwarz-Weiß-Kopierern herstellen und in Minimalauflagen von zehn Stück auf den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt anbieten – mit mäßigem Erfolg, aber dadurch tatsächlich strikt antikommerziell.

Von dem jungen Wilden mit Axt im Gürtel, ist heute nichts mehr zu erkennen. Akkordeons lockige dunkelbraune Haare sind zu einem Pferdeschwanz gebunden, sein Bart ist gepflegt und er trägt eine Jeans und einen dunklen Pullover zu schwarzen Outdoorstiefeln. Seine Augen haben etwas Sanftes und gleichzeitig Schalkhaftes, wenn er von seinen Kunstprojekten erzählt. Das Studium hat er schließlich 2003 nach zehn Jahren beendet, als der Fachbereich Kunstpädagogik aufgelöst wurde.

Petrus Akkordeon mit Hirschmaske auf seinem Pferd Norman.

Petrus Akkordeon mit Hirschmaske auf der Stute Butternase.

Der Mann, der ein Hirsch werden wollte

Akkordeon arbeitet künstlerisch hauptsächlich mit der Darstellung von Tieren, sowohl in seinen Zeichnungen als auch in Gedichten. Mit wenigen Pinselstrichen bringt er sie humorvoll und ausdrucksstark aufs Papier oder drückt seine Verbundenheit in Gedichtzeilen aus: „Überall sind diese Leute, gestreifte Wesen. Manchmal wäre ich gern ihr Freund. Möchte mich an ihnen reiben bis sie krallenscharf mich Nähe lehren.“ Vielleicht ist es diese Sehnsucht nach Nähe, die ihn 2009 auf den Gedanken bringt, in einem einjährigen Kunstprojekt das Hirschwerden zu probieren. Den Startpunkt legt er auf seinen Geburtstag, den 27. September – eine Wiedergeburt als Hirsch. „Wie man ein Hirsch wird“ ist für Akkordeon eine der schönsten, aber auch eine der schwierigsten Aktionen, die er je gemacht hat. Sie vereint seinen Wunsch, Realität allein durch Vorstellungskraft zu verändern mit seinem Talent, Menschen dazu zu bringen, seine Vorstellungswelt zu teilen. Akkordeon geht das Projekt ganz pragmatisch an. „Ich habe mir überlegt, was man braucht, um ein Hirsch zu werden und habe dann im Internet nach Angeboten gesucht.“

Wie es ist, vier Beine und ein Geweih zu haben

Nach anfänglicher Skepsis lassen sich tatsächlich einige „Experten“ auf ein Gespräch mit Akkordeon ein. Sie alle setzen sich mit dem Gedanken auseinander, es wäre tatsächlich möglich, sich in einen Hirsch zu verwandeln. Selbst eine Tierärztin, die als Naturwissenschaftlerin sicher nicht an Illusionen glaubt, gibt ihm praktischen Rat: Er solle sich einen Lebensraum suchen, der für Hirsche zum Schlafen und Essen geeignet wäre. Und mit einem Juristen, der sich sonst mit trockenen Paragraphen beschäftigt, führt Akkordeon eine ernste Diskussion darüber, ob man als Mensch seine Menschenrechte abgeben und gegen den Tierstatus tauschen könne. Als eine Jägerin überrumpelt zugibt, dass sie Akkordeon für einen Hirsch halten könnte, wenn sie einen Hirsch erwarten würde, hat Akkordeon sein Ziel erreicht: Jemand hat ihn tatsächlich als Hirsch gesehen, wenn auch nur für kurze Zeit.

Auch er selbst denkt sich hinein in das Hirschsein, stellt sich vor, wie es im Alltag wäre, vier Beine und ein Geweih zu haben. Das geht so weit, dass er nicht mehr Auto fährt, weil ihn sein Geweih dabei stört. Außerdem ernährt er sich vegan wie Hirsche auch. Nach einem Jahr und weiteren Gesprächen mit dem Berliner Wildtierexperten Derk Ehlert, einem Schamanen, einem Philosophen und einer Reiki-Meisterin, schließt er sein Projekt schließlich offiziell ab.

“Ich fühle mich immer noch wie ein Hirsch”.

Zeichnung von Petrus Akkordeon zum Thema "Hirsch"

Zeichnung von Petrus Akkordeon zum Thema „Hirsch“

Doch scheint die Aktion für Akkordeon noch nicht wirklich beendet zu sein. „Ich fühle mich immer noch wie ein Hirsch“, sagt er und betrachtet nachdenklich seine Füße auf dem Boden. „Und mir wächst langsam ein Geweih“. Er hebt den Kopf und sein Blick lässt keinen Zweifel zu. In der Vorstellung ist es plötzlich da: braun und mit spitzen Verzweigungen, schwebend über seinem Gesicht. Akkordeon lächelt zufrieden, ganz mit sich im Reinen.

Wenn es für ihn soweit ist, wird er einfach beschließen, etwas ganz anderes zu sein – ein Haselnussstrauch zum Beispiel.

Bücher von Petrus Akkordeon

1999 erschien das erste Buch „Der Froschkönig“ mit Gedichten und Zeichnungen von Petrus Akkordeon bei der edition wasser im turm.berlin.  Seitdem sind es bereits über fünfzig Bücher geworden, die unter anderem im Verlag Corvinus-Presse von Hendrik Liersch erschienen sind. Darunter „Zack die Ente“ mit Gedichten von F.W. Bernstein und Illustrationen von Petrus Akkordeon (2017).

Seine Bücher bekommt man u.a. bei: Corvinus-Presse , edition wasser im.turm.de, andante presse berlinmückenschweinverlag Stralsund, Verlagshaus Berlin.

Kontakt: pakkordeon@web.de
und auf Facebook: https://www.facebook.com/petrus.akkordeon

Hendrik Liersch

Einst Bausoldat und Möbeltischler in der DDR – heute Verleger,  Buchdrucker und Autor. Der Berliner Hendrik Liersch (55) hat sich nach der Wende bewusst für einen beruflichen Weg entschieden, den er in der DDR nie hätte gehen dürfen. Kompromisslos verlegt und druckt Hendrik heute nur Texte und Grafiken, die er selber mag. Den Staat um Erlaubnis fragen muss er nicht mehr. 

Die Druckerei von Hendrik Liersch liegt in einem Hinterhof in Berlin-Kreuzberg. Kein Schild weist darauf hin, nur Eingeweihte wissen, wo sie klingeln müssen. „Sonst komm ick hier nich zum Arbeiten“, kommentiert Hendrik trocken und gießt sich eine Tasse schwarzen Kaffee ein. Gedruckt wird, was ihm gefällt und in einer Form, die aus jedem Buch ein kleines Kunstwerk macht. Mit alten Druckmaschinen, per Handsatz oder Maschinensatz und auf unterschiedlichsten Papieren entstehen individuelle Künstlerbücher in vielen Formaten. Sammler und ca. 200 Universitätsbibliotheken aus aller Welt sichern sich regelmäßig die schönsten Exemplare.

Hendrik sitzt zusammen mit seinen beiden Druckereipartnern Harald und Dieter im Schatten einer alten Eberesche und genießt ganz offenbar den Augenblick. Er trägt ein schwarzes T-Shirt und Jeans, und hinter den ovalen Gläsern seiner  Metallbrille wandern seine Blicke hin und her, während er erzählt.

Gezeugt in Ahrenshoop

„Ich bin am 11. April 1962 in der Berliner Charité in der Tucholskystraße geboren und im Sommer 1961 in Ahrenshoop gezeugt“, sagt Hendrik. „Meine Mutter hat mir mal das Haus gezeigt, aber ich durfte nicht klingeln und mir auch das Zimmer angucken, obwohl ich sehr neugierig darauf war.“ So wie Hendrik davon erzählt, merkt man, dass es ihm als Kind schwergefallen sein muss, diese von außen gesetzte Grenze zu akzeptieren. Akzeptieren, was ihm nicht richtig erscheint – das geht nicht so ohne Weiteres. Das gilt auch für die Mauer, die seine Heimatstadt in Ost- und Westberlin teilte und die Bewohner willkürlich über Nacht zu Ossis und Wessis machte. Hendrik fühlte sich von Anfang an als Gesamtberliner: „Nur meine Heimatstadt hinkte hinterher und war noch geteilt.“ Durch seinen Vater, den Literaturkritiker und Schriftsteller Werner Liersch hat er auch Zugang zu West-Publikationen. „Ich habe schon immer Bücher und Magazine wie Spiegel und Stern gelesen und als kleines Kind bei uns zuhause die Schöpfer von Literatur aus Ost und West kennengelernt,“ sagt Hendrik. Was er auch lernt: Nicht jeder, der in der DDR etwas veröffentlichen möchte, darf dies auch tun.

Notfallpapa statt Alltagsvater

Als Hendrik vier Jahre alt ist, zieht er aus Neugier einen Bildband aus dem unteren Regal im Arbeitszimmer seines Vaters. Es ist ein Buch über Auschwitz und enthält verstörende Fotos von ausgemergelten Menschen, Haaren, Brillen, Toten. Diese frühe Begegnung mit der grausamen Geschichte des zweiten Weltkriegs hinterlässt einen tiefen Eindruck bei ihm und trägt dazu bei, dass Hendrik später alles Totalitäre ablehnt. Der schockierende Anblick führt damals dazu, dass er eine ganze Woche lang kein Wort mehr spricht. Seine Eltern sind besorgt, denn das Sprechen hatte er sowieso sehr spät begonnen. Hendrik musste erst Vertrauen fassen zur Welt, ihr eine Weile zuhören. Ein „erstes Wort“ sagt er nicht. Er beschloss einfach irgendwann, gleich in ganzen Sätzen zu kommunizieren. Das Verhältnis zu seinem Vater ist schwierig. Als bekannter Schriftsteller, der sogar in den Westen reisen darf, hat der wenig Zeit für seine Kinder Hendrik und Cornelia und Christine – die beiden älteren Geschwister von Hendrik. Als sich seine Eltern dann letztendlich scheiden lassen, leidet er – damals 9 Jahre alt – sehr darunter. „Ich hatte nie einen Alltagsvater, sondern immer nur einen „Notfallpapa“, sagt Hendrik. „Ich lernte früh, mich hauptsächlich auf mich selbst zu verlassen.“

Es ist wichtig zu wissen, was man nicht will

Wenn Hendrik heute erzählt, ist es schwer ihm zu folgen. Er gibt keine Antworten, sondern erzählt Geschichten. Verknüpft eine Episode seines Lebens mit einer anderen und vertraut darauf, dass der Zuhörer den Kreis schließen kann. Nicht immer möchte er alles sagen. Wie seine jetzige, zweite Frau Karen mit Nachnamen heißt zum Beispiel oder wie das Hotel heißt, das sie leitet. Dabei ist das natürlich schnell recherchiert. Offenbar wählt er mit Bedacht, was er preisgeben möchte und was nicht. Ähnlich geht er beim Drucken vor. Er weiß nicht, wieviele Bücher er schon gedruckt hat, aber das ist ihm egal. „Viel wichtiger ist doch, was ich nicht drucke“, sagt Hendrik. „Als Mensch ist es wichtig zu wissen, was du nicht willst“. Und das weiß Hendrik ganz genau und richtet sein Leben nach diesen Grundprinzipien aus. „Wenn du im Alter krank wirst, kannst du alles laufen lassen oder du kannst die Dinge steuern. Du entscheidest, ob du der verwirrte alte Mann sein willst oder ob du dir einen Waffenschein besorgst wie Gunter Sachs.“ Dabei hat Hendrik sein Leben lang Waffen abgelehnt. Bis heute geht er ausschließlich zu westdeutschen oder weiblichen Ärzten, weil er sicher sein will, dass sie keinen Militärdienst an der Berliner Mauer geleistet haben. „Ich möchte keinen Arzt haben, der an der Mauer geschossen hat. Wer studieren wollte, wurde ja vom Staat oft genötigt, drei Jahre an der Grenze zu dienen.“

Hendriks schwerster Kompromiss

Es scheint für Hendrik unerträglich, wenn andere ihn zwingen wollen, gegen seinen eigenen Willen zu handeln. Und doch musste er einmal den wohl schwersten Kompromiss seines Lebens eingehen. Als er als überzeugter Pazifist zur Nationalen Volksarmee (NVA) einberufen werden soll, steht er vor der Entscheidung, gegen seine Prinzipien zu handeln oder als Totalverweigerer für Jahre ins Militärgefängnis zu gehen. Da er weiß, dass er das Gefängnis aus psychischen Gründen nicht überleben würde, geht er den Weg des Bausoldaten – ein Wehrersatzdienst ohne Waffe, aber dennoch in Uniform bei der NVA. Bausoldaten standen auf der untersten Stufe der militärischen Hierarchie und waren Diskriminierungen und Repressalien ausgesetzt. Als Zwangsarbeiter füllten sie Lücken, wo Arbeitskräfte fehlten und mussten unter oft verheerenden  Arbeitsbedingungen schuften. Im Extremfall in den Chlordämpfen der Stahl- und Chemieindustrie z.B. in Merseburg. Nach der Bausoldatenzeit war ihnen dann zudem der Zugang zu vielen Berufen und zum Studium verwehrt. Hendrik bereitet sich auf die bevorstehenden Monate Zwangsaufenthalt und Fremdbestimmung mental vor, in dem er sich Unterstützung von seinem Freund Georg holt, der das Konzentrationslager Buchenwald überlebt hat. „Er sagte zu mir, du musst einfach gucken, dass du dich als Pflanze betrachtest und versuchst, da Wurzeln zu schlagen. Er meinte damit, ich solle mich darauf konzentrieren, was ich trotz der Situation noch machen kann – nicht darauf, was nicht mehr möglich ist“.

Bausoldat auf Rügen

1987 wird Hendrik als Bausoldat für Rügen einberufen kurz nachdem er geheiratet hat. „Sie wollten dich immer aus irgendwas rausreißen“, sagt Hendrik. „Kaum hattest du deine Ausbildung abgeschlossen oder als Künstler ein Engagement an einem Theater oder in einem Orchester erhalten, musstest du plötzlich innerhalb von einer Woche dein Leben komplett umkrempeln und zur Armee.“ Die Bausoldaten sind im durch die Nazis errichteten kilometerlangen KdF-Bau („Kraft durch Freude“) in Prora untergebracht. Er liegt parallel zum Strand und ist der größte Bausoldaten-Standort der DDR. 500 Bausoldaten sind dort als Teil von drei regulären Kompanien von insgesamt 15.000 Mann in Prora untergebracht.

Für 18 Monate sind die Soldaten jeweils zu sechst in 20-Quadratmeter-Zimmern einquartiert – ohne jegliche Privatsphäre. Der zwölfstündige Arbeitstag beginnt jeden Morgen um viertel vor vier und verlangt ihnen alles ab, wenn sie mit Spitzhacken und Schaufeln statt mit unterstützender Technik den Fährhafen Mukran bauen. Hendrik besinnt sich auf den Rat seines Freundes und konzentriert sich auf das, was gut ist. „Ich habe keinen einzigen Sonnenaufgang versäumt und dem Meeresrauschen zugehört“, sagt Hendrik und lächelt.  „Abends habe ich dann gelesen – zum Beispiel ,der Mann ohne Eigenschaften’ von Robert Musil, den ich innerhalb von drei Wochen durch hatte. Wo kannst du das sonst im normalen Leben?“

Nackt und vorgeführt

Dann geschieht etwas, worauf sich Hendrik nicht vorbereiten konnte: Seine Frau will sich von ihm trennen. Eingesperrt in der Kaserne und ohne Telefon, kann Hendrik weder zu ihr fahren noch mit ihr sprechen. Es stürzt ihn in eine tiefe Krise, dass man ihn nicht um seine Ehe kämpfen lässt. Er fühlt sich ausgeliefert und merkt, dass er dringend Hilfe braucht, weil er Selbstmordgedanken hat. Mitten in der Nacht versucht er, einen Militärarzt zu finden. Letztendlich wird er einem diensthabenden Orthopäden vorgeführt , der ihn nackt auf und ablaufen lässt. „Der hat dann erkannt, dass ich für zwei Wochen auf die geschlossene Abteilung gehöre“, sagt Hendrik, und es klingt sarkastisch. „Da durfte ich dann rumlaufen mit meinen schwarzen Halbschuhen ohne Strümpfe und in einem OP-Hemd bis zum Bauch, keine Unterhose kein nüscht. Das war Schikane oder wir waren einfach unwichtig für die“, sagt Hendrik.

Die Einweisung in die geschlossene Abteilung und ein von ihm veranlasstes Gespräch mit dem Standort-Kommandeur von Prora führen dazu, dass man Hendrik für die letzten Monate in Ruhe lässt. „Ich hatte plötzlich Narrenfreiheit,“ sagt Hendrik. „Die dachten, der hat sowieso ´ne Macke“.

Über die Zeit auf Prora hat Hendrik ein kleines Buch geschrieben und gedruckt (Ein freiwilliger Besuch – als Bausoldat in Prora, Corvinus Presse, 1997). Auch war er Mitbegründer des Vereins „Förderkreis Bausoldaten Prora e.V.“ und hat als Zeitzeuge in Schulen über seine Bausoldatenzeit gesprochen. Er wollte einerseits selbst das Thema verarbeiten und andererseits auch dafür sorgen, dass dieser Teil der DDR-Geschichte nicht komplett in Vergessenheit gerät. Auch ist er einer der wenigen, der einige Jahre später noch einmal zu den Ruinen in Prora zurückgekehrt ist, um für sich selbst einen Schlussstrich zu ziehen. Viele der einstigen Kameraden konnten das bis heute nicht.

Druckfreiheit

Mit der Wende steht Hendrik Liersch die Berufswelt offen. Er könnte sein Abitur nachmachen, studieren, Architekt werden oder auch in seinem gelernten Beruf des Möbeltischlers einen Meister machen. Doch diese Wege interessieren ihn nicht. Es muss ein Beruf sein, den er in der DDR niemals hätte wählen können: Verleger und Drucker. So gründet Hendrik 1990 den Einmannverlag Corvinus Presse (Corvinus = der kleine Rabe). Der Name ist eine Hommage an den Verleger und Schriftsteller Victor Otto Stomps, der 1926 den Verlag „Die Rabenpresse“ gegründet hatte. Im dritten Reich bot dieser Freiraum für Künstler, deren Werke von den Nationalsozialisten abgelehnt und teilweise sogar verbrannt worden waren. Hendrik Liersch sieht sich in dessen Tradition – sowohl in Bezug auf die hohe handwerkliche Qualität als auch der politischen Komponente. So gehören zu Hendriks Künstlerbüchern u.a. Werke von Henryk Bereska (Mitunterzeichner der Petition gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann) und Peter Will, der für regimekritische Gedichte drei Jahren lang in der DDR inhaftiert war.

Oft sind es auch Zufälle kombiniert mit Sympathie, die ein Kunstprojekt hervorbringen. 2005 führten drei Stunden Unterhaltung in der Warteschlange zur Goya-Ausstellung vor der Alten Nationalgalerie in Berlin zu zwölf Büchern mit dem Maler und Bildhauer Zoppe Voskuhl, mit dem er weiterhin regelmäßig eng zusammenarbeitet.

Respekt und Wertschätzung

Die Buchdruckkunst ist für Hendrik eine Herzensangelegenheit. Niemals würde er sich anbiedern, um einen wohlwollenden Artikel in einer Zeitung oder eine Erwähnung durch eine wichtige Persönlichkeit zu erreichen. „Es bringt mir nichts, wenn ein hochbezahlter Professor sagt „das ist aber ein schönes Buch“. Für ihn zählen die Sammler, die seine Drucke schätzen, sie kaufen und ein echtes Interesse an seiner Kunst haben. Hendrik mag sowieso vor allem Menschen, die wertschätzend und respektvoll mit ihm umgehen – egal wie nützlich er für sie ist. „Wenn ich auf Partys meine Ruhe haben will, dann sage ich nicht, dass ich Kunst drucke und Bücher mache, sondern, dass ich arbeitslos bin. Dann unterhalten sich viele nicht mehr mit dir, weil du plötzlich uninteressant bist.“

Gespräche führt Hendrik am liebsten mit viel Tiefgang: „Lieber ein intensives Gespräch mit einer Person auf dem Balkon, als Small Talk mit vielen im Partytrubel. Das ist nur Zeitvertrödelung, denn die wollen bloß herausfinden, ob du für sie nützlich bist.“

You can always print what you want

Genauso ist das mit der Kunst. Wenn ein Buch gut werden soll, braucht es intensive Auseinandersetzung und viel Zeit. Das ist einer der Aspekte, die den Verlag Corvinus Presse so besonders machen. Hendrik kümmert sich selbst um die Umsetzung und sorgt mit seinem geschulten Auge dafür, dass der künstlerische Inhalt mit den richtigen Farben, dem richtigen Papier und dem richtigen Format verbunden wird. „Ich habe dabei eine Ruhe und eine Kraft, die sich andere nicht gönnen. Ich will ja vermeiden, dass man kitschige Bücher in lila Einbänden macht.“ Die Gefahr besteht bei Hendrik Lierschs Verlag sicher nicht. Viele hundert Bücher hat er bereits gedruckt, und sie alle sind kleine Kunstwerke, die nur entstanden sind, weil Hendrik es so wollte. Ohne Schere im Kopf, ohne Einmischung von außen.

„Mein Motto ist you can always print what you want!“ sagt Hendrik lachend. Und er klingt frei als er den Rolling Stones Hit abwandelt.

Impressionen aus der Druckerei findet man auf Facebook.

Hendrik Liersch trifft man:

auf Facebook: https://www.facebook.com/CorvinusPresse/ 
im Internet: www.corvinus-presse.de
auf Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Hendrik_Liersch
auf der Messe: 13. BuchDruckKunst https://buchdruckkunst.com/die-messe/ – Erlesenes auf Papier im Museum der Arbeit, Hamburg (23. – 25. März 2018)

Kontakt:
corvinus@snafu.de

Auszeichnung:
2009 V. O. Stomps-Preis der Stadt Mainz für buchkünstlerische Leistungen