Annegret Corsing

Zehn Jahre lang dauerte es, bis Annegret Corsing (39) ihre Borderline-Erkrankung überwand. Heute ist sie eine „Erfahrungsexpertin“ und gibt ihr Wissen über den Umgang mit der schweren Krankheit weiter. Sie will damit anderen helfen und durch Aufklärung die Stigmatisierung und Diskrimierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen bekämpfen. 

Annegret Corsing ist eine zierliche, attraktive Frau mit einem offenen Gesicht, großen grünen Augen und langen braunen Haaren. Wenn sie über ihre Geschäftsideen spricht, spürt man die Energie, die sie antreibt und mit der sie andere sofort in ihren Bann zieht. Kaum zu glauben, dass es Zeiten in ihrem Leben gab, in denen sie nicht ihr eigenes Leben lebte, sondern das ihrer Eltern oder der jeweiligen Partner. Dass es Zeiten gab, in denen jede Beziehung nach wenigen Wochen zu einer emotionalen Katastrophe wurde und Trennungen sie monatelang aus der Bahn warfen. „Es gibt neun Symptome für Borderline, auf die fünf zutreffen müssen, damit man die Diagnose stellt. Und eins davon ist ein extrem instabiles Selbstbild,“ erläutert Annegret. „Ich hatte eine massive Angst, verlassen zu werden, aber gleichzeitig einen extremen Freiheitsdrang, weil ich zu viel Nähe als gefährlich empfand.“ Annegrets Verhalten wechselte daher ständig zwischen extremem Klammern und Abweisung. Tagtäglich durchlebte sie eine unkontrollierbare Gefühlsachterbahn, der sie anfangs vollkommen hilflos gegenüberstand. 

Das gute und das schlechte Kind

Die Ursache für ihre Krankheit sieht Annegret rückblickend in der fehlenden Bindung zu ihren Eltern, die weder sie noch ihre anderthalb Jahre jüngere Schwester Birgit* so akzeptierten wie sie waren. „Unser Vater machte seine Zuneigung davon abhängig, ob wir „lieb waren“ also das taten, was er wollte. Nie wussten wir, ob wir gerade das gute oder das schlechte Kind waren –  ein ständiger Wechsel zwischen schwarz oder weiß. Du konntest nicht einfach nur du sein.“ Immer, wenn Annegret eine andere Meinung als ihr Vater vertritt, widerspricht er ihr vehement, denn er sieht darin einen Affront gegen seine Person. Die Mutter bezieht entweder Position für den Vater oder hält sich aus allem raus. Als Annegret mit 13 intuitiv merkt, dass ihr Vater andere Frauen trifft, spioniert sie ihm nach. Sie spricht ihn darauf an, weil sie die Situation unerträglich findet. Doch er streitet immer wieder alles ab, bis sie es schließlich glaubt. Fünf Jahre später erwischt sie ihn in flagranti mit einer fremden Frau im Elternschlafzimmer und erkennt, dass sie die ganze Zeit Recht hatte. „Ich hatte da aber schon gelernt, nicht auf meine Gefühle, meine Wahrnehmung, meine Intuition zu hören, weil mir meine engste Bezugsperson jahrelang erzählt hat, nein, das ist nicht so. Und das musste ich mir ganz hart wieder antrainieren. Es fällt mir heute noch schwer.“ In der Kindheit ist bei Annegret das Gefühl entstanden, nicht wertvoll genug zu sein, um geliebt zu werden. Sie überlebt, in dem sie alles daran setzt, die Erwartungen von anderen zu erfüllen. Der Preis: Sie muss ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche vergessen. 

“Ich habe immer ein Doppelleben geführt.”

1999 nach dem Abitur scheint alles gut zu laufen. Annegret, die bisher bei ihren Eltern in Berlin-Treptow gelebt hat, zieht von zuhause aus und geht nach Hamburg, um eine Ausbildung zur Fachinformatikerin an der IHK zu machen. Eigentlich hätte sie lieber etwas Künstlerisches gelernt, doch sie folgt dem Rat ihrer Mutter, und die Ausbildung macht ihr tatsächlich Spaß. Doch die erste schwere Krise kommt, als eine Liebesbeziehung auseinander geht. „Mit der Trennung bin ich überhaupt nicht klar gekommen. Ich wollte und konnte plötzlich nicht mehr essen.“ Annegret, die sowieso schon sehr schlank ist, wird immer dünner und sucht schließlich Hilfe bei einer psychologischen Beratungsstelle in Hamburg. In dieser Zeit geht es ihr so schlecht, dass sie teilweise nicht mehr aufstehen kann. Doch der Wille, „es den anderen zu zeigen“ ist so übermächtig, dass sie, wenn es darauf ankommt, alle Kräfte mobilisiert, die sie noch hat. „Meine Mutter hat sich vor mir erschrocken, wenn ich morgens noch hilflos im Bett lag, weil alles so schlimm war, aber dann nachmittags bei einem Vorstellungsgespräch tatsächlich den Job bekommen habe.“ Den Schmerz ausblenden, die Fassade wahren, den anderen zeigen, dass sie gut ist, dafür lebt Annegret, die mittlerweile nach Berlin zurückgekehrt ist. Sie ist sehr gut in ihrem Beruf, treibt ihre Karriere als Webentwicklerin erfolgreich voran und geht 2002 sogar für ein Jahr nach London. „Ich habe immer ein Doppelleben geführt. Beruflich erfolgreich und gut und super und beziehungstechnisch immer absolute Katastrophe.“ 

Nach einer weiteren schmerzhaften Trennung 2004 muss Annegret zum ersten Mal zur Behandlung in eine Klinik. Ein Jahr lang kämpft sie sich mühsam zurück ins Leben. Sie hat eine Essstörung entwickelt, durch die sie panische Angst vor dem Erbrechen hat. Das führt soweit, dass sie zwei Stunden, bevor sie S-Bahn, U-Bahn oder Bus fahren muss, nichts mehr isst und nicht mehr in fremden Autos mitfährt, wenn sie nicht einschätzen kann, ob der Fahrer sofort anhalten kann, wenn sie es möchte. Ihre Panikattacken schränken ihr Leben immer mehr ein. Trotz dieser Belastungen beginnt sie 2005 ein Studium der Medieninformatik an der HTW in Berlin. 

Diagnose Borderline

Als sie 2006 wieder in eine extreme Beziehungskrise gerät, ahnt Annegret, dass dahinter mehr stecken muss als nur eine Essstörung. Sie selbst hat den Verdacht, dass sie vielleicht an einer Borderline-Erkrankung leidet. Das wäre eine mögliche Erklärung für ihre impulsiven und unkontrollierbaren Gefühlsausbrüche und die damit einhergehenden Beziehungsprobleme. Sie lässt sich zwei Wochen in der Berliner Charité auf psychische Erkrankungen durchchecken, um endlich Klarheit zu haben. Das Ergebnis ist niederschmetternd: Die Ärzte attestieren Annegret sieben von neun möglichen Persönlichkeitsstörungen. Die größte Übereinstimmung zeigt sich bei der Borderline-Symptomatik. „Letztendlich war es eine Schockdiagnose, aber ich war auch sehr erleichtert, weil ich endlich wusste, was es ist und dass man da etwas tun kann.“ 

In den folgenden zwei Jahren beginnt Annegrets Leben sich zu ändern. Neben dem Studium macht sie sich als IT-Beraterin selbständig. Sie arbeitet weiter an sich selbst, macht eine Therapie und erlernt dort Handwerkszeug, um ihre Gefühle besser regulieren zu können. Außerdem hat sie gerade Thomas* kennengelernt. „Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich gleich von Anfang an gesagt, dass es mit mir schwierig werden könnte und es ihm überlassen, ob er trotzdem mit mir zusammensein möchte.“ Thomas ließ es auf sich zukommen und beide sind mittlerweile seit elfeinhalb Jahren zusammen und seit einem Jahr verheiratet. Es ist die längste Beziehung, die Annegret je hatte. Den größten Anteil daran, dass es funktioniert, hat sicher Annegret selbst, die alles daransetzt, zu verstehen wer sie ist. Die Auseinandersetzung mit ihrer Krankheit und ihren Ursachen ist intensiv und oft schmerzhaft. 

In ihrer Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) wendet sie sich ihren Emotionen zu. Diese werden in Erregungsleveln gemessen – der höchste Level liegt bei 100. Bei Borderline-Patienten ist der Level im Durchschnitt bereits erhöht und liegt bei ca. 30, während er bei anderen im Normalzustand nur Level 5 erreicht. Für alle Menschen wird angenommen, dass sie ab Level 70 nicht mehr klar denken können. Doch Menschen mit Borderline-Erkrankung erreichen diese Schwelle viel schneller: „Wo andere einen Sicherungskasten haben, geht bei uns alles immer direkt durch und die Kabel dahinter sind auch oft nicht isoliert“, sagt Annegret. 

Annegret lernt, was bei ihr den Erregungslevel steigen lässt und wie sie das frühzeitig erkennen kann. Doch wie kann sie ihre Emotionen in diesen Situationen in den Griff bekommen, um auch handlungsfähig zu sein? Dazu muss der Stresslevel auf unter 70 sinken. Annegret probiert verschiedene Werkzeuge (Stresstoleranz-Skills) aus. Es müssen sehr starke Reize sein wie beispielsweise das heftige Schnipsen eines Gummibands am Handgelenk. „Dit tut so weh! Da denkst du nicht mehr an deine Wut, sondern nur noch ‚au‘,“ erzählt Annegret lachend. Ausnahmsweise kommt dabei ihr Berliner Dialekt zum Vorschein, den man sonst nicht bemerkt. 

Da jeder anders auf Reize reagiert, stellt sich jeder Patient auch seinen eigenen „Notfallkoffer“ zusammen. Der Inhalt variiert und kann für alle Sinnesreize ausgelegt sein: Tabasco für die Zunge, ein Wutball zum Kneten, ein Stofftier zum Streicheln, ein Foto, Kieselsteine für die Schuhe für Prüfungssituationen oder ein starker Geruch wie z.B. Ammoniak. „Ich hatte scharfe Gummibärchen mit dem Schärfegrad 7 von 10. Die gab es nur im Internet.“ 

Ein weiteres Handwerkszeug ist die sogenannte „radikale Akzeptanz“: Fakt (was ist passiert), mein Gefühl (wie fühle ich mich deshalb) und dann darin zu verharren, ohne etwas zu tun. „Ich versuche nicht, mein Gefühl zu einer Situation loszuwerden. Ich leiste keinen Widerstand, übe keinen Druck aus, laufe nicht davor weg. Ich stelle mich innerlich vor mein Gefühl, betrachte es und lasse es da sein.“ Gerade Letzteres ist sehr hart, denn fast jeder neigt dazu, intensive Gefühle zu bekämpfen – sei es in Gedanken, sei es mit Worten oder sogar mit körperlicher Gewalt gegen andere oder Selbstverletzung. „Indem man lernt, mit seinen Emotionen gut umzugehen, sorgt man dafür, dass man nicht mehr so leicht in schwere Krisen gerät. Das ist Handwerkszeug, das jeder gut gebrauchen kann, nicht nur Erkrankte.“

Auf dem Weg in ein anderes Leben

Annegret merkt schon während ihrer Therapie, dass ihr Leben eigentlich eine andere Richtung nehmen sollte. So auch im eigentlichen Sinn, denn im September 2009 macht sie sich kurz nach dem Abschluss ihres Medieninformatikstudiums gemeinsam mit ihrem Mann mit ihrem VW-Bus auf die Reise nach Kapstadt. Sieben Monate lang reisen sie durch insgesamt 22 Länder und fahren mehr als 30.000 Kilometer. Das bedeutet viel Zeit zusammen, viel Nähe. Annegret hätte dies vor ihrer Therapie wohl nicht geschafft. Zu oft wäre sie von Emotionen überrollt worden, hätte mit Panikanfällen, Wutausbrüchen Stimmungsschwankungen kämpfen müssen und darüber den Blick für das Schöne und die Liebe verloren. Jetzt kommt sie stattdessen gestärkt und voller Energie zurück. Noch lebt sie ihr altes Leben weiter, baut ihre Selbständigkeit weiter aus. 2013 nimmt sie nach langer Zeit wieder eine feste Stelle an, bei der sie allein für ein weltweit genutztes Produkt verantwortlich ist. Als jedoch ein Jahr darauf ihre Beziehung in eine Krise gerät, wird sie wieder krank. Diesmal für anderthalb Jahre. 

Annegret dringt mit Hilfe von Therapeuten immer weiter in den Kern ihrer Persönlichkeit ein. Es ist ein langer Prozess, während dem sie erkennt, dass ihre psychischen Störungen ein Versuch sind, sie von ihren Gefühlen zu trennen – um sie vor ihrer inneren Leere und dem Schmerz aus der Kindheit zu schützen. Ganz langsam hat sie den Zugang zu ihrem wahren Ich bekommen, sich neu entdeckt und endlich lieben gelernt – genauso wie sie ist. Sie hat es endlich geschafft, die Borderline-Erkrankung hinter sich zu lassen und einen anderen, selbstgewählten Weg einzuschlagen.

Ihren Beruf als selbständige IT-Beraterin sieht sie nun mit anderen Augen. Hat sie ihre Arbeit nur deshalb so intensiv und erfolgreich betrieben, weil sie anderen damit beweisen musste, dass sie gut und somit etwas wert ist? Ist es wirklich das, was sie tun möchte? Annegret zweifelt immer mehr daran. Sie begibt sich auf die Suche nach etwas Neuem, nutzt aber noch die ihr bekannten Leistungsmuster: Kompetenzen erwerben und dadurch ihr selbst und anderen zeigen, dass sie etwas kann. So lassen sich ihre Personal Trainerausbildung und die dann zahlreichen psychologischen Weiterbildungen erklären, die sich ab 2015 aneinanderreihen: Achtsamkeits- und Meditationstrainerin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Coach und psychologische Beraterin, Resilienz-Trainerin uvm.

Lieblingsmensch und RAMSES

Im Sommer 2016 setzt sie ihre erste Geschäftsidee um, die ihr wirklich entspricht und mit der sie auch anderen Menschen ermöglichen möchte, zu sich selbst zu finden. Ihr Konzept umfasst mehrwöchige Coachingprogramme mit E-Mail- oder persönlicher Begleitung, bei denen die Kunden lernen, sich selbst anzunehmen. Begleitend eröffnet sie ihr eigenes Büro und den Blog blog.lieblingsmensch.me, auf dem sie über ihre eigenen Erfahrungen und verschiedene psychologische Themen schreibt. Zusätzlich unterstützt sie ehrenamtlich die psychosoziale Kontakt- und Beratungsstelle Pankow der Albatros gGmbH.

Bei Gruppensitzungen stößt sie immer wieder auf Menschen, die viele Wochen auf einen Therapieplatz warten müssen. Annegret überlegt, was man ihnen anbieten könnte, damit sie diese Zeit gesundheitlich möglichst stabil überbrücken können. Sie nutzt hierfür Fähigkeiten, die sie bereits als IT-Beraterin so erfolgreich gemacht haben: Sie geht sehr strukturiert und analytisch an das Thema heran und entwickelt ein durchdachtes, eigenes Trainingsprogramm zur Stärkung der Resilienz, der Fähigkeit, Krisen zu bewältigen. Da sie das alte Ägypten sehr liebt, nennt sie es RAMSES, „Resilienz durch Achtsamkeit und Mitgefühl und Schaffung emotionaler Stabilität“. Das Training wird durch Psychiatrie- und Krisenerfahrene, also Erfahrungsexperten wie Annegret selbst, begleitet und richtet sich an Menschen mit oder ohne psychische Erkrankungen, aber auch an Unternehmen. Annegrets Trainings, Workshops und Vorträge dienen Mitarbeitern zur Prävention oder unterstützen sie, wenn sie nach langer Krankheit an den Arbeitsplatz zurückkehren. Annegret bietet zudem auf RAMSES basierende zertifizierte Präventionskurse für jedermann an, die sogar von den Krankenkassen erstattet werden. 

“Erfahrungsexperte wird im Duden stehen!”

All dies hat sie nun unter dem Dach ihrer Website „www.die-erfahrungsexperten.de“ zusammengeführt. Annegret ist von dem Potenzial ihrer Geschäftsidee überzeugt. Sie glaubt, dass zukünftig immer mehr „Erfahrungsexperten“ als Schnittstelle zwischen Arzt und Patient arbeiten werden und dass dieser Beruf ein Alltagswort werden wird. „Es wird irgendwann im Duden stehen, dafür sorge ich schon!“. Annegrets Stimme überschlägt sich fast, so sehr brennt sie für ihr Projekt. Sie hat sich vorgebeugt, die Worte sprudeln förmlich aus ihr heraus, und sie unterstreicht jedes Wort mit einer schnellen Handbewegung. „Ich möchte alle Erfahrungsexperten miteinander vernetzen und dazu beitragen, dass sie eine deutschlandweit standardisierte, hochqualifizierte Ausbildung erhalten.“ 

Annegret ist eine Schnelldenkerin, eine Visionärin, die ihre vielen Einzelideen immer weiter verknüpft hat bis ein tragbares Netz entstanden ist, das sie jederzeit um weitere Fäden und Verbindungen erweitern kann. Ihre Krankheit, ihre Krisen, ihre Erkenntnisse und neu erlernten Fähigkeiten, alle sind sie in ihr Konzept eingeflossen und haben sich immer wieder verändert bis etwas Großes entstanden ist. Etwas, das einen wertvollen gesellschaftlichen Beitrag leisten kann, wenn sie es zum Laufen bringt.

Es hat Potenzial, um psychisch Erkrankten als Erfahrungsexperten wieder eine berufliche Perspektive zu geben. Es kann für Entstigmatisierung sorgen, wenn ehemals Erkrankte den Trainings- und Präventivansatz in Unternehmen tragen und als Betroffene über psychische Krankheiten informieren. Mit Präventionsangeboten für jedermann steigt zudem die Chance, dass Menschen gar nicht erst erkranken. Wenn all dies einmal umgesetzt ist, hätte Annegret ihr berufliches Ziel erreicht. 

Kinder müssen wissen, dass sie geliebt werden

Und dann ist da noch etwas anderes. Etwas, das Annegret sich schon eine Weile von ganzem Herzen wünscht: „ Ich möchte gerne bald Kinder bekommen.“ 

Leider ist das nicht ganz leicht für sie, denn erst seit Kurzem hat sich ihr Hormonhaushalt normalisiert. „Mein Körper ist steckengeblieben in einer kindlichen Phase und reagiert sehr empfindlich auf Störungen.“ Und es ist nicht nur ihr Körper, der Beachtung möchte, sondern auch ihr inneres Kind, wie sie sagt. Gerade erst hat sie sich ihm – oder ihrem Kern – zugewendet und nun soll diese Aufmerksamkeit abgezogen werden? „Ich muss als Mutter sehr aufpassen, dass ich genügend Zeit für mich selbst behalte, um nicht in alte Muster zu verfallen.“ Ihr Mann wird sie dabei intensiv unterstützen, das hat er schon angekündigt. „Er hofft sogar, dass meine Geschäftsidee richtig abgeht, damit er dann zuhause bleiben kann,“ sagt Annegret lachend. 

Annegret und ihr Mann haben sich fest vorgenommen, immer für ihre Kinder da zu sein. „Sie sollen wissen, dass wir sie auffangen, wenn sie uns brauchen und dass wir sie immer lieben, egal, was sie tun. Das ist das Allerwichtigste, womit sie aufwachsen müssen. Ich weiß das, denn ich hatte das alles nicht.“

*Name geändert.

Annegret Corsing trifft man hier:

Raum für Wachstum
Gethsemanestr. 6
Aufgang III
10437 Berlin

Tel: 030 60271681
H: 0157 82022301

www.anncor.de und  www.die-erfahrungsexperten.de 

Sabine Zinc

Sabine Zinc (56), sagt von sich, sie sei eine echte „Ostbraut“. Sie lacht für ihr Leben gern, obwohl sie nicht immer viel Grund dafür hatte. Ihre Mutter akzeptierte sie nicht, ihre Tochter bekam Krebs, eine Partnerschaft ging aufgrund von Alkohol auseinander, ihr Bruder starb. Heute ist sie glücklich verheiratet mit Jürgen und immer noch verliebt wie ein Teenager.

Wenn man Sabine glaubt, dann ist es Jürgen, der sie ständig zum Lachen bringt. Glaubt man Jürgen, dann verdankt er es Sabine, dass er nach vielen Jahren endlich wieder lachen kann. Auf jeden Fall ist das Lachen von Sabine ein Naturereignis. Sie  lacht mit ihrem ganzen Körper,  krümmt sich nach vorn, nach links und nach rechts. Dabei zieht sie Grimassen, kneift ihre dunkelbraunen Augen zusammen und wedelt mit den Händen als wolle sie verhindern, dass ihr Gegenüber noch mehr lustige Sachen sagt, weil sie keine Luft mehr bekommt. Wer dann in der Nähe steht, wird einfach mitgerissen von dieser fröhlichen Lawine, die jegliche schlechte Laune kompromisslos niederwalzt.

Sabine Zinc (gesprochen „Zinz“) wurde am 5. August 1961 in Hohen Neuendorf bei Berlin als Sabine Hänel geboren. Ihr Start in die Kindheit war alles andere als einfach, denn sie litt an einer Art Kinderlähmung und konnte nicht laufen. „Bis ich vier Jahre alt war, wurde ich in einem Kinderwagen geschoben. Im linken Bein habe ich heute noch vier tiefe Löcher von den Spritzen, die ich immer in dieselben Stellen bekommen habe.“

Trennung von der Familie

Doch nicht nur die Spritzen haben Narben hinterlassen, auch das Verhalten ihrer Eltern – vor allem das ihrer Mutter – hat sie bis heute tief verletzt. „Als ich anderthalb Jahre alt war, hat meine Mutter beschlossen, dass ich nicht in die Familie passe,“ sagt Sabine. Sie versteht bis heute nicht, weshalb die Mutter sie zu den Großeltern gibt, aber alle Geschwister später bei sich behält.

Der Kontakt zur Familie bleibt in den folgenden Jahren distanziert. Die beiden jüngeren Schwestern Verena, Daniela, die ältere Schwester Manuela und ihren Bruder Hilmar sieht sie nur bei Familienfesten. „Die wollten alle nichts mit mir zu tun haben, weil ich bei Oma wohnte“, sagt Sabine heute. Doch eine richtige Erklärung ist das nicht. Ihre Mutter reagiert extrem abweisend, wenn sie ihre Tochter durch Zufall in der Stadt trifft und wechselt sogar die Straßenseite. Das ist schwer zu verstehen und sicher nicht die beste Voraussetzung, um sich später selbst zu lieben. Doch glücklicherweise gibt es Sabines Oma. Diese sorgt dafür, dass Sabine trotz allem eine glückliche Kindheit hatte. Bei ihr findet sie das, was ihre Mutter ihr bis heute verweigert: Liebe und Fürsorge. „Meine Großeltern waren irgendwann meine Mama und mein Papa,“ sagt Sabine rückblickend und lächelt. Als ihr Opa stirbt, ist sie elf Jahre alt und wohnt danach weiter bei ihrer Oma „damit sie nicht so alleine ist“, wie sie sagt.

Liebe und Alkohol

Sabine bleibt in Hohen Neuendorf, macht eine Ausbildung zur Bäckerverkäuferin und Kassiererin im Großhandel und trifft ihren ersten Mann Rainer. Mit ihm ist sie 20 Jahre zusammen und zieht mit ihm ihre beiden Kinder Dominik (34) und Belinda (29) groß. Sabines Mutter bleibt weiter auf Abstand. Weder unterstützt oder besucht sie ihre schwangere Tochter, noch interessiert sie sich später für ihre Enkel. Sabine sagt, ihr selbst sei das egal gewesen, doch ihr Blick lässt daran zweifeln.

Nach der einvernehmlichen Trennung von ihrem Mann folgt eine langjährige Beziehung mit Volker, einem begnadeten Koch, aber leider auch einem Alkoholiker, Sabine merkt erst, wie es um ihn steht, als er nach einem gemeinsam verbrachten Abend eines Morgens vor ihr steht und sie anfährt, wo sie denn nachts gewesen sei. Volker beschuldigt sie, fremdgegangen zu sein und phantasiert, dass das Wohnzimmer voller fremder Männer sei. „Er hatte sich das Kurzzeitgedächtnis vollkommen weggesoffen.“ Volker hat das Korsakow-Syndrom – seine Gehirnzellen sind durch Alkohol unwiderruflich zerstört. „Ich habe nur von Bier gewusst, bis dann die Flachmänner aus den Ecken gepoltert sind. Du kannst dir nicht vorstellen, wo die überall waren. Er hatte zwar immer eine Fahne, aber er wirkte nicht betrunken. Ich habe das zwölf Jahre lang nicht gemerkt. Vielleicht wollte ich es auch nicht wahrhaben.“

Einige Zeit bleibt Sabine noch bei ihm, doch sein Zustand macht ein Zusammenleben schließlich unmöglich. Auf Bitten ihrer Tochter Belinda verlässt sie ihn und zieht 2010 zu ihr nach Berlin-Hohenschönhausen.

Sorge um die Tochter

Anders als sie es mit ihrer eigenen Mutter erlebt hat, hat Sabine ein sehr enges Verhältnis zu ihrer damals 23-jährigen Tochter. Sie liebt sie über alles und genießt das Zusammenleben mit Belinda, ihrem einjährigen Enkel Damion und seinem Vater sehr. Doch dann schlägt das Schicksal erneut zu. Im Februar 2011 entdeckt Belinda morgens beim Blick in den Badezimmerspiegel eine große Beule an ihrem Hals, die am Abend zuvor noch nicht da war. Sie gehen sofort zum Arzt. Der ist sehr alarmiert, entnimmt eine Gewebeprobe und schickt sie ein. Das Ergebnis ist ein Schock: Morbus Hodgkin, Lymphdrüsenkrebs.

Es beginnt eine Zeit, an die sich Sabine nicht gern zurückerinnert. Ihre Tochter wird operiert, bekommt Bestrahlung, dann Chemotherapie und muss verschiedene Medikamente nehmen. Sabine pflegt ihre Tochter und weicht ein Dreivierteljahr lang keinen Tag von ihrer Seite. Da Belindas 20-jähriger Freund von der Krankheit, aber auch von der Vaterrolle überfordert ist, kümmert sich Sabine auch um den Enkel. In dieser schweren Zeit hofft Sabine noch einmal auf das Verständnis ihrer Mutter. Sie ruft sie an und erzählt ihr von der Krebskrankheit ihrer Enkelin. „Da hat sie einfach gesagt, solange Belinda noch rumlaufen kann, wird es ja nicht so schlimm sein.“ Die Erinnerung daran macht Sabine immer noch wütend. „Ich habe dann nicht mehr mit meiner Mutter gesprochen.“

Belinda verliert durch die Krankheit stark an Gewicht und auch Sabine wird immer dünner aus Sorge um sie. „Das hatte den Vorteil, dass wir uns beide die gleichen Klamotten kaufen konnten,“ erinnert sich Sabine lachend. So zeigen sie, dass sie zusammengehören. Belinda geht später nach überstandener Krankheit noch einen Schritt weiter und lässt sich den Namen „Sabine“ auf den Arm tätowieren. Aus Liebe zu ihrer Mutter.

Es gibt ein Foto von Sabine, auf dem sie und ihre vier Geschwister mit ihrem Vater zu sehen sind. Sabine hat die kräftige Statur von ihm und auch den dunklen Teint, der viele glauben lässt, sie sei Türkin. „Dabei bin ich eine hundertprozentige Ostbraut“, sagt Sabine und grinst. Wenn es Sabine gut geht, umrandet sie ihre dunklen Augen mit schwarzem Kajal und zieht ihr Leoparden-T-Shirt an. Ihre langen Fingernägel lackiert sie sorgfältig mal schwarz, tiefrot oder mehrfarbig. Fingernägel sind wichtig, denn sie sind der Grund, weshalb sie heute zum zweiten Mal verheiratet ist. „Dabei habe ich immer gesagt, ich heirate nie wieder,“ sagt Sabine lachend.

Warum man mit langen Fingernägeln nicht Billard spielen sollte

Doch dann kam Jürgen. Sie kennt ihn schon seit Jahren als guten Freund, mit dem sie ab und zu quatscht oder Skat spielt. Mehr nicht. Als er sie also an einem Samstag anruft und fragt, ob sie Lust hätte, mit ihm Billard spielen zu gehen, denkt sie sich nichts weiter dabei. Sie macht sich hübsch und fährt spät abends nach Hohen Neuendorf. Sie spielen eine Weile, doch dann fällt einer ihrer aufgeklebten Fingernägel in das Loch, in das die Kugeln hinein sollen. Der Billardtisch ist blockiert, nichts hilft – den Nagel bekommen sie nicht mehr heraus. Jürgen sieht sie eine Weile an und sagt schließlich: „Na, wenn das hier so langweilig ist, können wir auch zu mir fahren – da ist es genauso langweilig.“

Sabine geht mit und bleibt gleich bis zum Frühstück. Später wird daraus das ganze Wochenende. „Und dann fing das Wochenende donnerstags an und hörte erst mittwochs auf. Irgendwann sagte dann meine Tochter: ’also wohnst du jetzt hier oder wohnst du da? Dein Enkel vermisst dich.“

Beide sind verliebt wie Teenager und überglücklich. Den Heiratsantrag macht dann Sabine spontan, als sie mit dem Auto an einer roten Ampel warten müssen. „Ich sagte zu meinem Liebling: ’weißte was, fahr am besten mal hier links rum zum Linden Center.“ Als Jürgen erstaunt fragt, was sie da noch kaufen möchte, antwortet Sabine kurz und knapp: „Ich kauf jetzt Ringe.“ Und als Jürgen wissen will, ob das ein Heiratsantrag war, sagt Sabine kichernd ‚ja‘. Ihren Jürgen heiratet sie am 23. Mai 2014 in Schöningen und feiert dann in kleinem Kreis in ihrer Gartenlaube. Auf dem Hochzeitsfoto steht das glückliche Brautpaar in strahlender Sonne vor dem geschmückten Auto. Jürgen hat seine langen Haare auf Wunsch von Sabine kurz schneiden lassen, aber sein vorwitziger grauer Schnauzer ist geblieben.  Sabine hat blond gefärbte Haare und ein langes weißes, schulterloses Kleid mit Armstulpen aus Spitze. Ihr kleiner roter Brautstrauß passt perfekt zum roten Jackett von Jürgen mit den kleinen Ansteckblumen. Beide haben ihre Arme ineinander verschränkt und halten sich an den Händen, fest entschlossen, sich nie wieder loszulassen.

Der Tod gehört zum Leben dazu

Vor der Hochzeit hatte sich Sabine bereits in der Schöninger Region als Altenpflegehelferin beworben. Diese Zusatzausbildung hatte sie noch in Berlin absolviert, aber dort keine Arbeit gefunden. „In Berlin bekam ich immer die Ausrede, ich sei ja schon über 50. Irgendwann konnte ich das nicht mehr hören.“ Und nun ist sie in Schöningen und bekommt eine Woche nach ihrer Hochzeit nun auch eine neue Arbeitsstelle. „Das war Liebe auf den ersten Blick mit meiner Chefin.“

Für Sabine beginnen nun drei herausfordernde Jahre in einer Dementen-WG in Wolfsburg. Jeden Tag fährt sie von Schöningen 45 Kilometer hin und zurück, oft auch spätnachts über Land. Sie arbeitet zwei Schichten hintereinander, denn wie überall in der Pflege herrscht auch hier Personalmangel. Sabine liebt ihren Beruf. Hier ist sie genau richtig mit ihrer gefühlsbetonten und fürsorglichen Art. Sie liebt die Nähe zu den demenzkranken Menschen, die sie drücken und Dinge sagen wie „schön, dass du da bist.“ Auch, wenn sie vielleicht in diesem Moment denken, es sei ihre Enkelin, die vor ihnen steht. Sie begleitet Menschen oft bis zu ihrem Tod, lagert sie bequem und liest ihnen vor, bis sie nicht mehr atmen und weint auch um sie.

Doch all das hinterlässt auch seine Spuren. Immer seltener gelingt es Sabine, die Arbeitserlebnisse am Fahrstuhl zurückzulassen. Immer mehr zehren die vielen Schichten und die Nachtarbeit an ihren Ressourcen. Hinzu kommen zwei Autounfälle mit Wildtieren innerhalb von zwei Wochen, die sie verdrängt und trotz des Schocks danach weitermacht wie immer. Doch dann kommen plötzlich Panikattacken. Autofahren wird immer mehr zur Qual, und sie muss sich regelrecht zwingen, einzusteigen. Es wird schließlich so schlimm, dass sie eines Morgens einsehen muss, dass es nicht mehr geht. „Ich hab meinen Mann angeguckt und gesagt: ’ich kann nicht fahren. Ruf an und sag Bescheid“. Sabine nimmt sich notgedrungen eine Auszeit, will aber im Januar 2017 unbedingt wieder arbeiten gehen.

Doch dann kommt alles anders. Im Januar stirbt ihr Bruder Hilmar an einem Herzinfarkt auf Mallorca, und Sabine ist am Boden zerstört. An Arbeit ist nicht mehr zu denken. Sabine schluckt, als sie das erzählt, denn sie und ihr Bruder standen sich sehr nah. Ihre Liebe füreinander haben sie erst im Erwachsenenalter entdeckt, als Hilmar gegen den Willen der Mutter den Kontakt zu seiner Schwester wieder aufgenommen hatte. Da er jedoch auf Mallorca lebte, konnten sie sich nur selten sehen.

Der Tod ihres Bruders macht Sabine so sehr zu schaffen, dass sie sich überwindet und ihre Mutter anruft, weil sie mit ihr über ihren Bruder sprechen möchte. Das Gespräch wird zum Fiasko, weil es der Mutter nur darum geht, Geld für die Beerdigung einzufordern. Das ist zu viel für Sabine, die das Gespräch wütend abbricht.

Die Mutter bestimmt schließlich allein, wann und wie die Verbrennung stattfindet und wo die Asche ins Mittelmeer gestreut werden soll.  Hilmar hatte sich eine Seebestattung gewünscht. Die Mutter informiert weder Hilmars Lebensgefährtin Susan,noch Sabine und lädt beide nicht zur Trauerfeier ein. Bis heute erträgt Sabine den Gedanken nicht, dass sie sich nicht von ihrem Bruder verabschieden konnte. Das ist der Tropfen, der das Fass endgültig zum Überlaufen bringt. „Das werde ich meiner Mutter niemals verzeihen. Zu ihrer eigenen Beerdigung werde ich nicht gehen.“

Die Angst überwinden

Seit dem Tod ihres Bruders geht es Sabine schlecht. Sie hat Angst in geschlossenen Räumen, kann keine längeren Strecken mehr mit dem Auto fahren und die alltäglichsten Dinge werden zur Herausforderung. Selbst eine Straße mit Kurve oder einer Steigung kann Panikattacken auslösen, weil Sabine nicht sehen kann, was hinter dem Hügel oder hinter der Kurve kommt. Sie ist deshalb krankgeschrieben und hat eine Reha gemacht, aber gut geht es ihr immer noch nicht.

Nur, wenn sie von ihrem Mann Jürgen spricht, ist ihr altes Strahlen wieder da. Man spürt die tiefe Liebe, die sie für ihn empfindet. Sie möchte es beschreiben, kann es aber gar nicht richtig in Worte fassen. „Mein Mann ist so liebenswürdig. Er ist lieb, der ist kuschelig, der – ich weiß es nicht,“ Sabine bricht ab und lacht aus vollem Herzen.

Solange er für sie da ist, wird sie das Lachen trotz aller Rückschläge nie verlernen. Vielleicht traut sie sich dann eines Tages sogar, mit dem Flugzeug nach Australien zu fliegen. Dort lebt seit sechs Jahren ihr Sohn Dominik mit seiner Frau, den sie nur sehr selten sehen kann. Das ist ein Herzenswunsch von ihr, den sie bislang nicht erfüllen konnte, zu stark ist ihre Angst, im Flugzeug eingeschlossen zu sein.

Was ihre Mutter betrifft, so hat Sabine ihr einen Brief geschrieben. Einen langen Brief, der all die Verletzungen aufführt, die sie durch sie erfahren hat. Sie erkennt ihr darin das Recht ab, sich „Mutter“ oder „Oma“ zu nennen. Denn das war sie nie. Der Brief ist der Schlussstrich einer Beziehung, die nie wirklich existiert hat. „Mir geht es seitdem deutlich besser,“ sagt Sabine. Die Frau, die früher ihre Mutter war, braucht sie schon lange nicht mehr.

Sabine Zinc trifft man in Schöningen bei Helmstedt oder auf Facebook.

Immer dabei: ihr Mann Jürgen (ein echter Hohen Neuendorfer) und Hund „Uschi“ (ein „reinrassiger“ Pudel-Malteser-Mix).